Ausstellung „Wer wir sind“ in Bonn: Migration als Menschenrecht
Kunst Die Ausstellung „Wer wir sind“ stellt in der Bundeskunsthalle Bonn allerlei Fragen an das Einwanderungsland Deutschland. Eine gnadenlose wie poetische Konfrontation mit deutschen Gepflogen- und Verlogenheiten
Die Bundeskunsthalle in Bonn – oder genauer: die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland – ist ein quadratischer Klotz, dessen Äußeres an einen Trutzbunker erinnert. Die Ausstellung Wer wir sind soll jedoch in eine entgegengesetzte Richtung weisen: Offenheit und Vielfalt soll sie demonstrieren, als Bekenntnis zu einer schlichten Tatsache, welche die Regierungserklärung von 2021 so formuliert hat: „Deutschland ist ein Einwanderungsland. Darum ist es höchste Zeit, dass wir uns auch als Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft begreifen.“
Wer wir sind ruft als Echo dieses reformierten Selbstverständnisses ein „Wir“ aus, das vage bleibt: Vielleicht umfasst es alle, die hier leben, vielleicht nur diejenigen, die
lleicht nur diejenigen, die irgendwann neu dazugekommen sind. Die als fremd gelten, weil sie dunkle Haut haben, muslimischen Glaubens sind, eine Flucht durchgemacht haben. Fragen an ein Einwanderungsland, so der Untertitel, will die Schau stellen, seien sie auch „kritisch“ oder gar „unbequem“, wie das Katalogvorwort fast kleinmütig raunt. Das Motto verharrt vorsorglich lieber im unverbindlichen Fragemodus. Im Inneren erfolgt dann aber eine gnadenlose und zugleich hochpoetische Konfrontation mit deutschen Gepflogen- und Verlogenheiten, die alles andere ist als leichte multikulturelle Kost.Helmut-Kohl-Allee 4Da ist etwa die eindrucksvolle Installation Stricken von Magda Korsinsky: ein Miteinander von Audiostationen und zu Patchworks zusammengenähten Textilien, die einen halbkreisartigen Raum abschirmen. Das Ganze basiert auf ausführlichen Interviews mit Schwarzen deutschen Frauen, deren Großmütter zu Zeiten des Nationalsozialismus lebten. Nur langsam erschließt sich die Hautfarbe der Sprecherinnen. Die eindrücklichsten Werke sind oft Video- und Tonarbeiten, in denen Opfer rassistischen Terrors zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten oder diese künstlerisch verarbeiten wie Talya Feldman, die den Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 überlebte.Was zunächst moderat als multiperspektivisch annonciert wird, ist doch eine erhobene Faust, wie sie auch die riesigen Fotos der südafrikanischen Künstlerin Lerato Shadi in unterschiedlichen Varianten zeigen, und das Ergebnis einer lange eingeklagten migrantischen Selbstrepräsentation, die hier mit einem großen Sprung unübersehbar mitten im Hauptnarrativ dieser Gesellschaft gelandet ist. Dass dies gelingen konnte, dafür hat es allerdings – auch das dokumentieren Fotos und Zeugnisse – jahrzehntelange migrantische Kämpfe gebraucht, deren emanzipatorischen Zielen sich der deutsche Staat hartnäckig entgegenstellte.„Wer ist (nicht) Teil der Strukturen dieser Institution“, fragt ein Schriftzug gleich am Eingang und meint damit ganz direkt das Haus selbst. Das Fragezeichen fehlt. Artefakte, die aus der Sammlung des „Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland“ (DOMiD) stammen, und Kunstwerke aller Sparten greifen auf vielerlei Ebenen ineinander, ergänzen sich oder stehen in einem vielschichtigen Dialog. Diesmal scheint, folgt man den Beteiligten, ein erklärtermaßen möglichst wenig hierarchisches Miteinander auf wundersame Art nicht dazu geführt zu haben, dass ein ehrgeiziges Konzept in inneren Kämpfen um Deutungshoheit zerrieben wurde. Gleich zu Beginn annoncieren Globen und Landkarten wie in den Werken von Lucia Sceranková, Damian Le Bas oder William Kentridge die übergreifende Allgegenwart globaler Wanderungsbewegungen und verschieben den Blick weg von deutscher Überheblichkeit. Migration, sagt Lynhan Balatbat-Helbock aus dem kuratorischen Team, sei kein Phänomen, sondern ein Menschenrecht. Die libanesische Künstlerin Mona Hatoum entlarvt auf einer maßstabsgetreuen Weltkarte, auf der Europa winzig klein erscheint, die eurozentrische Weltsicht und den langen Atem imperialer Strukturen.Die Bundeskunsthalle liegt übrigens an der Helmut-Kohl-Allee, Hausnummer 4. In Kohls Regierungserklärung hieß es 1983 noch: „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ Das hat dann so nicht geklappt. 2020 hatten 26,7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, bei Kindern unter fünf Jahren waren es sogar 40,3 Prozent. In manchen deutschen Städten kommen mittlerweile mehr als die Hälfte der Einwohner*innen aus anderen Ländern. Helmut Schmidt hatte sich 1982 noch gebrüstet: „Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze.“ Das Land, das nach langem Ringen nun doch noch sein spätes Coming-out als Einwanderungsland erlebt hat, befasst sich endlich unumwunden, weil aus erster Hand mit der Geschichte der Gastarbeiter*innen, die in ehemaligen Lagern für NS-Zwangsarbeiter*innen untergebracht wurden, mit ihrer Musik und ihren Arbeitskämpfen, oder mit den nach 1989 durch die Bundesrepublik um ihre Löhne betrogenen DDR-Vertragsarbeiter*innen. Mit der afrikanischen Diaspora, die gegen die Fortschreibung kolonialen Unrechts antritt, oder mit jüdischem Leben und antisemitischen Straftaten in Deutschland.Die Stationen der Ausstellung sind unwillkürlich eingebettet in gesellschaftliche Debatten. Dazu gehört auch Mario Pfeifers erschütternde Videorekonstruktion Zelle 5 über den Tod von Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einem Dessauer Gefängnis verbrannte. Sie kommt zu dem Schluss, es könne ausgeschlossen werden, dass Jalloh sich selbst angezündet hat. In diesem Jahr wurde die Wiederaufnahme von Ermittlungen durch das oberste deutsche Gericht abgelehnt. Spiegel-Titelblätter, die einen unaufhaltsamen Andrang von „Ausländern“, „Asylanten“ und „Armen“ ausrufen, schufen das mediale Klima für Ressentiments und nationale Abschottung. Dem Beschluss über die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl vor 30 Jahren folgte nur wenige Tage später der Brandanschlag in Solingen, bei dem fünf Menschen starben, darunter drei Kinder. Angeblich sollte der so genannte Asylkompromiss der gesellschaftlichen Befriedung dienen.Damit ist aber dann doch noch nicht alles gesagt. Die Hunderte Unterstützer*innenbriefe an die vom Brandanschlag am 23. November 1992 betroffenen Familien Yılmaz und Arslan, die die Stadt Mölln abgefangen hat, erzählen nicht nur von behördlicher Infamie, sondern auch vom unverbrüchlichen antirassistischen Engagement der Zivilbevölkerung. „Mein Vater ist 53“, schreibt ein zwölfjähriges Mädchen. „Er ‚kann keine Ausländer ab‘. Immer wenn er etwas darüber liest oder sieht, fängt er an zu schimpfen. Meine Schwester und ich möchten dann am liebsten kotzen (Entschuldigung für die Ausdrucksweise, aber es ist so) und ihm eine Backpfeife verpassen, um ihn zur Besinnung zu bringen.“ Recht so. „So wie Rassismus ein soziales Phänomen ist, genauso ist der antirassistische Widerstand eine sozial verankerte Praxis“, sagt Lynhan Balatbat-Helbock. Diese Ausstellung ist eben nicht nur eine Anklage, sondern ein stolzes Manifest für eine Gesellschaft der Vielen.Placeholder infobox-1