„Deutschland. Alles ist drin“ war das Grüne Programm zur Bundestagswahl 2021 überschrieben. Und in der Tat, bei den Grünen ist ja immer so einiges drin: Sie haben Hartz IV mit eingeführt und den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr durchgesetzt, sie haben Gas aus dem menschenrechtsverachtenden Katar beschafft, sie haben ein erst unsoziales und dann unwirksames Heizungsgesetz vorgelegt und eine Verschärfung des europäischen Asylrechts mitgetragen, gegen die sie noch so scharf protestierten, als sie regierungsseitig von Horst Seehofer und der CSU betrieben wurde.
Only Nixon could go to China, so lautet die geflügelte Wendung für eine politische Initiative, die letztlich nur von einer Person oder Position aus ergriffen werden konnte, von der man sie am wenigsten erwartet hätte. So war es kein anderer als der Kalte Krieger und Kommunistenhasser Richard Nixon, der im Jahr 1972 als US-Präsident in die Volksrepublik China fuhr und bei einem Treffen mit dem KP-Chef Mao Tse-tung der zerrütteten Beziehung zwischen beiden Staaten neues Leben einhauchte.
Nun also ging Robert Habeck nach Doha, Annalena Baerbock nach Brasilien und Nancy Faeser – mit Unterstützung der Grünen – nach Brüssel. Die finale Zustimmung der Ampelkoalition zur EU-Asylreform, von der SPD-Kandidatin für das hessische Ministerpräsidentenamt als „historischer Erfolg“ bezeichnet, sei richtig, ließ sich die grüne Außenministerin vernehmen – wenngleich ihr die Zustimmung zu dem Verhandlungsergebnis, so Baerbock in einem Schreiben an die Bundestagsfraktion, „als Grüner und auch persönlich schwergefallen“ sei. Gleichwohl: Dass die EU seit dem Migrationsjahr 2015 keine funktionierende gemeinsame Asylpolitik habe, sei eine „offene Wunde“, die endlich zu heilen gewesen sei; ein Scheitern der Reform „hätte mehr und nicht weniger Leid bedeutet“.
Fragt sich nur: für wen? Denn der europäische Asyl-„Kompromiss“ zielt ebenso eindeutig wie einseitig auf die Abschottung gegen unerwünschte Migration – und ähnelt auf bemerkenswerte Weise Seehofers Vorschlägen zur Errichtung von „Transitzentren“ aus dem Jahr 2018. Die Inhaftierung von Migrant*innen direkt an der Grenze, das war ein politisches Projekt, das die damalige schwarz-rote Regierung beinahe zerrissen hätte. Zehntausende gingen gegen diese Asylpolitik auf die Straße, allein in Bayern, über 200.000 waren es in Berlin bei der unteilbar-Demonstration. Die CSU greift das Asylrecht an? Das provozierte den Widerstand des grün-liberalen Milieus.
Baerbocks Lösung: Das Asylrecht zulasten der Humanität auflösen
Jetzt, unter einer rot-grün-liberalen Regierung, kommt alles so, wie es sich die parlamentarische Rechte schon lange wünscht: beschleunigte und von Rechtsschutzauflagen praktisch gänzlich befreite Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, in die all jene Personen einbezogen werden, die wegen der restriktiven Anerkennungsentscheidungen der Mitgliedsstaaten nur „geringe Aussicht auf Schutz“ haben. Ausgenommen sind nur unbegleitete Minderjährige, womit man die Zustände, die später wortreich beklagt werden dürften, regulativ überhaupt erst herbeiführt. Während des Grenzverfahrens, und für eine Dauer von bis zu drei Monaten, werden die als nicht eingereist geltenden Betroffenen unter haftähnlichen Bedingungen interniert. Das freilich gilt rechtsförmlich nicht als Freiheitsentzug, denn „wer will“, so dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung lakonisch, kann sich „jederzeit wieder in ein Land außerhalb der EU“ begeben.
Baerbock bezeichnet dies mit einer marktgängigen Politfloskel als „schmerzhaften Kompromiss“ – was hier offen perfide Züge annimmt, wird doch suggeriert, dass das eigentliche Leid dem grünen Spitzenpersonal zugefügt werde. „Regierungsverantwortung zu tragen bedeutet für mich, sich solchen Dilemmata zu stellen“ – und zwar offensichtlich auf die Weise, sie zugunsten der Volksseele und zulasten der Humanität aufzulösen. Mit Verlaub: Fast wünscht man sich den guten alten grünen Kriegsaußenminister Joschka Fischer zurück.
Nun ist Außenpolitik immer auch Außenwirtschaftspolitik, und Habeck ging nicht umsonst nach Doha. Im März 2022 arrangierte der Wirtschaftsminister und Vizekanzler kurzfristig eine Reise nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate, um angesichts des Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen Sorge um die deutsche Energieversorgung nach alternativen Lieferanten für Flüssiggas – und zukünftig sogenannten grünen Wasserstoff – zu fahnden. Wer, wenn nicht ein Grüner, hätte Länder, denen Amnesty International fortlaufend schwere Menschenrechtsverletzungen attestiert, wegen fossiler Brennstoffe hofieren und sich anschließend zugutehalten können, mit der Turboerrichtung eines LNG-Terminals in Wilhelmshaven das erreicht zu haben, was „in Deutschland eigentlich unmöglich“ sei, nämlich (so die Deutsche Umwelthilfe) „eine einzigartige Einschränkung von Beteiligungs- und Umweltrechten“ ins Werk zu setzen?
Das soll feministische Außenpolitik sein?
Und Baerbock? Ging letzte Woche nach Brasilien, um der „fairen Migration“ von Pflegekräften in deutsche Heime und Haushalte, und damit weg aus brasilianischen Krankenhäusern und Arztpraxen, den Weg zu ebnen – so hatte man, und schon gar nicht frau, ihren Einsatz für eine „feministische Außenpolitik“ eigentlich nicht verstanden.
Nixon ist Habeck ist Baerbock: Seit der „großartigerweise“ (Habeck) von Erfolg gekrönten Bettelreise zu den Autokraten am Persischen Golf eilen die Grünen, allen voran ihr exponiertes Exekutivpersonal, von Tabubruch zu Tabubruch. Und immer geht es dabei, wie auch anders, um das allerhöchste politische Gut: um deutsche Interessen. Der Klimaschutz und globale Solidarität, die Sorgen der schmalen Geldbeutel das Recht auf Asyl und die Menschenrechte in Katar gehören offenkundig nicht dazu. Ihre Externalisierung konnte der böse Seehofer nicht durchsetzen, zu unmenschlich fanden wir Rechtgesonnenen diese schwarze Agenda. Geschieht aber dasselbe in grün, dann haben die Verantwortlichen zumindest mächtig mit sich gerungen. Die Geschädigten ihrer Politik werden es ihnen sicher danken.
Stephan Lessenich ist Professor für Gesellschaftstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Direktor des Instituts für Sozialforschung. 2022 erschien sein jüngstes Buch: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs
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