Es ist, als könne man über die Grünen nicht nüchtern sprechen: Wenn sie nur überhaupt als Gegner wahrgenommen werden, müssen sie gleich auch böse Heuchler, wenn nicht regelrechte Hassobjekte sein. „Als eine Partei der scheinbar strahlend sauberen Weste“, ereifert sich am Tag vor der Bremen-Wahl die FAZ, fühlten sich die Grünen „moralisch haushoch überlegen“ und seien jetzt aber beim Filz im Bundeswirtschaftsministerium erwischt worden.
Aus für Patrick Graichen
Die Grünen als Moralapostel und ihre Entlarvung – ein Dauerbrenner, den vor allem die Unionsparteien anheizen. Natürlich geht es diesmal um Robert Habecks Energie-Staatssekretär. Der grüne Minister musste Patrick Graichen jetzt opfern, weil zum Beispiel dessen Schwester Verena im Öko-Institut arbeitet, das häufig Aufträge vom Ministerium bekommt. Was für ein Verbrechen aber auch! Graichen hätte alle Aufträge an den Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) weiterleiten sollen, der hätte eine moralische Autofirma eingeschaltet.
Die Empörung der unionsnahen Presse ist noch gar nichts verglichen mit der Wut, die den Grünen vonseiten der AfD und des Wagenknecht-Flügels der Linken entgegenschlägt. Sie seien „die gefährlichste Partei“ im Bundestag, ruft ihnen Sahra Wagenknecht nach – gefährlicher als die AfD? Sie seien es gemessen an dem Schaden, den sie verursachten, präzisiert sie.
Aber man hat doch gesehen, dass sie fast nichts durchsetzen? Das ist ja auch zur Zeit so: Nur wenn auch die FDP oder mindestens Bundeskanzler Olaf Schloz (SPD) zustimmt, bringen sie etwas zustande. Waren sie es etwa, die die waffenfreundlich gewordene Stimmung im ganzen Land, oder jedenfalls in Westdeutschland, durchgesetzt haben? Wenn das so wäre, warum hat dann der Bundesverteidigungsminister, ein Sozialdemokrat, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock an Beliebtheit überholt?
Wüten gegen den Großstadt-Lifestyle
Schon vor einigen Jahren konnte man staunen über Wagenknechts Abgrenzung von einer Berliner Demonstration, mit der eine Viertelmillion Menschen gegen Rassismus und den Abbau des Sozialstaats protestierte. Später legte sie in einem Buch noch nach, verdammte den „Lifestyle“ großstädtischer Menschen, in denen man ja wirklich die Wählerinnenbasis der Grünen und auch des grünnahen Flügels der Linken sehen darf. Gegen den grünen Lifestyle, speziell die Genderpolitik, wütet die AfD noch mehr und schon länger. Und will von ökologischer Politik noch weniger, wenn das möglich ist, als Wagenknecht etwas wissen. Aber muss sie das so hasserfüllt mitteilen? Jürgen Elsässers Monatszeitschrift Compact, die der AfD nahesteht, erschien vor ein paar Jahren mit einem Titelbild, das die Grüne Claudia Roth als Hitler zeigte.
Zur Sache gehört auch, dass nicht alle Parteien so hyperventiliert auf die Grünen reagieren. SPD und FDP tun es nicht. Das ist auch kein Wunder, denn diese drei Parteien sind auseinander entstanden. Die Sozialdemokratie aus dem Liberalismus schon nach 1848, die Grünen hauptsächlich aus der SPD um 1980. Sie kennen einander zu gut, als dass es ihnen an Nüchternheit im Umgang miteinander fehlen könnte.
SPD und FDP sind weniger wütend. Aber dafür machen sie die Grünen gern zum Sündenbock, was dann wieder die Wut der rechteren und linkeren Kräfte anstachelt. So hat die SPD über viele Jahre die Grünen als „rechts“ gebrandmarkt, weil sie womöglich mit der CDU koalieren würden. Bei der Linkspartei ist dieser Vorwurf immer gut angekommen. Die SPD darf das, aber die Grünen doch nicht.
Klaus Wowereit hat es vorgemacht
Speziell in Berlin konnte man es besichtigen: Der Sozialdemokrat Klaus Wowereit gewann 2011 seinen Wahlkampf gegen die Grüne Renate Künast mit der Behauptung, sie wolle mit der CDU koalieren. Künast wehrte sich vergeblich. Nach der Wahl koalierte Wowereit mit der CDU, obwohl er es auch mit den Grünen hätte tun können. Das wiederholt sich zur Zeit: Die SPD unter Franziska Giffey verlässt die Berliner Koalition mit Grünen und Linken, um sich der CDU an den Hals zu werfen. Der es nicht einfällt, sie wegen ihres falschen Doktortitels eine Heuchlerin zu nennen.
Die Eignung der Grünen zum Sündenbock ist auch von der FDP erkannt worden. Man sieht es in der Heizwende-Debatte. Da zeigen die Grünen wieder, dass sie eine „Verbotspartei“ sind. Und die SPD ist keine? Ihr Generalsekretär Lars Klingbeil hat erklärt, das Gesetz aus Habecks Ministerium müsse unbedingt am 1.1.2024 in Kraft treten. „Nachbesserungen“, ja, aber dadurch hört das Gesetz nicht auf, zu verbieten. Der SPD wirft es die FDP nicht vor. Den Grünen soll man es vorwerfen.
Und das funktioniert. Dass sie jetzt in der Bremen-Wahl so schlecht abschnitten, hat sicher viel mit der Heizwende zu tun. Die gesteigerte Wut der CDU, vor allem aber des Wagenknecht-Flügels und am meisten der AfD erklärt sich vordergründig schon daraus, dass die Grünen ihnen allen etwas kaputt gemacht haben. Dass die von der Christdemokratin Angela Merkel geführte Bundesregierung die Grenzen für syrische Flüchtlinge öffnete, war ebenso wie Merkels Atomausstieg auch Ausdruck der Hoffnung, die Grünen als Koalitionspartner zu gewinnen. Und auch das Gesetz zur Homoehe hat sie durchgehen lassen. All das hat ihre Partei zerrissen, mit dem Ergebnis der Verselbständigung der AfD.
Die CDU ist sauer über Merkels „grüne“Politik
Die CDU, die nach dem AfD-Austritt noch übrig blieb, greift die Grünen weniger heftig an, eben weil sie mit ihnen koalieren will – ist aber verstimmt genug ob dieser „Heuchler“, weil sie selbst als sich christlich nennende Partei die moralische Kraft sein müsste. Dass wiederum die Linke einen Großteil ihres Einflusses in Ostdeutschland an die AfD abtreten musste, legt der Wagenknecht-Flügel ihrer Vergrünung zur Last.
Aber auch der andere Flügel wird sich fragen, was er von seiner Öffnung für das Thema Ökologie gewonnen hat. Wohin soll die Partei denn nun steuern? Aber wo sie isoliert wurde, ging das nicht von den Grünen aus. In Hessen hätte sie mitregieren können, SPD-Abgeordnete haben es verhindert. Im Bundestag hätte der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel mit ihrer Hilfe Bundeskanzler sein können, er ordnete sich lieber, wie jetzt Giffey in Berlin, der CDU unter. Der tiefere Grund, weshalb der Wagenknecht-Flügel auf die Grünen so hemmungslos wütend ist, ist ohnehin ein anderer: Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass das eine irgendwie extreme Partei ist, wie man selbst eine sein möchte – eine Partei indessen, die es wundersam schafft, nicht extremistisch genannt zu werden. Vielmehr drang sie in die politische Mitte ein und ist dort in aller Munde.
Das Extreme liegt darin, dass sie eine prophetische Partei sind. Als eine solche sind sie gestartet und sind es bei aller Anpassung an den politischen Betrieb bis heute geblieben. Dass sie die ökologische Katastrophe zwar ankündigen, aber keine wirksamen Gegenmittel durchsetzen, haben sie mit den jüdischen Propheten gemein. Mit denen auf eine Stufe gestellt zu werden, verdienen sie freilich nicht – mit einem Jesaja, der verkündete, nur ein Rest des Volkes werde übrigbleiben. Nun ja, wer hört schon gern eine solche Botschaft. Was die Grünen angeht, reden sie lieber davon, dass man alles im Griff habe. Dabei sind die Mittel, die sie vorschlagen, gar nicht imstande, die Katastrophe aufzuhalten. Aber die Katastrophenbotschaft kommt trotzdem durch. Es sind feige Prophetinnen, aber nicht falsche. Vielleicht folgen ihnen andere, die es besser machen als sie? Das ist es aber nicht, worauf die CDU, die AfD oder der Wagenknecht-Flügel hinarbeiten.
Bitte kein Schaum vorm Mund
Wie sollte man auf feige, auch vielleicht zu wenig intelligente Prophetinnen reagieren? Nicht mit Schaum vor dem Mund – der verrät, dass man ihnen heimlich recht gibt, es aber nicht wissen will – sondern indem man sie sachlich kritisiert. So wie es Jürgen Habermas in der Frage des Ukraine-Kriegs implizit getan hat. Wenn sie nur auf Waffenlieferungen zu setzen scheinen, und wenn wiederum andere es von vornherein falsch finden, dass sich ein überfallenes Land mit Waffen verteidigen will, dann auch, weil sich beide Seiten nicht klarmachen, dass die Menschheitsgeschichte der Kriege nur schrittweise abgeschafft werden kann.
Das ist es, was geschehen muss, statt dass man noch Öl ins Kriegsfeuer gießt. Oder umgekehrt so tut, als seien Kriege eigentlich schon ausgerottet gewesen. Auch die ökologische Politik der Grünen verdient viel Kritik. Aber warum kommt sie nicht von Sahra Wagenknecht? Hat sie ihre kommunistischen Anfänge denn ganz vergessen? Wenn sie sich noch an Karl Marx erinnerte, würde sie wissen, dass der letzte Grund des Elends der Elenden im Kapitalismus liegt: Der ist es aber auch, der den Konsumismus und dessen ständiges Wachstum braucht – und damit die Zerstörung des Planeten – um dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken.
Die Grünen als Verbotspartei
Sogar wenn die Grünen eine Verbotspartei genannt werden, ist das nicht falsch. Denn so etwas wie die Heizwende dürfte nicht von oben dekretiert werden. Vielmehr müsste die Politik das Volk imstand setzen, über die großen ökonomischen Wandlungen mit dem Stimmzettel selbst direkt zu entscheiden. Wenn es das könnte, würden Debatten ernsthafter geführt und könnte niemand mehr Sündenböcke schnitzen. Die Grünen machen Angst, setzen aber nichts durch?
Beides stimmt, aber warum geben sie den Schwarzen Peter nicht der Wähler:innenbasis, indem sie ein neues direkt ökonomisches Wahlsystem fordern? Vielleicht wird einmal die Letzte Generation darauf hinwirken. Sie pflegt ja den ganz neuen Politikansatz, mehr noch als dem Staat direkt den Bürgerinnen zu widersprechen, wo diese sich in ihre Autos setzen oder ihre Museen besuchen. Der Kunst nimmt man Prophetie nicht übel. „Du musst dein Leben ändern“, hat sich Rainer Maria Rilke vom Torso Apollos sagen lassen. Aber es stimmt nicht nur im Museum. Damit macht die Letzte Generation Ernst. Die Grünen bereiten die Partei, die wir brauchen, nur vor. So sollten sie dann aber auch behandelt werden.
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