„Flüchtlingsgipfel“ im Kanzleramt: Spiel mit dem Feuer – und mit der Angst
Migration Wenn Politiker sich an Umfragen orientieren anstatt an ihren Überzeugungen, wird es gefährlich – das zeigt der „Flüchtlingsgipfel“ einer ganz großen Koalition im Kanzleramt von Olaf Scholz. Eine Analyse von Stephan Hebel
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Zeitungslektüre.
Collage: der Freitag; Material: Getty Images, Midjourney
Joß Steinke verfügt sicher nicht über die lauteste Stimme in der aufgeheizten Debatte über Flucht und Migration. Das ist bedauerlich, denn der Bereichsleiter für Jugend und Wohlfahrtspflege beim Deutschen Roten Kreuz hat ein gutes Gespür für das wichtigste Leitmotiv der politischen Auseinandersetzung: Angst.
Bezahlkarte statt Geld, Aufrüstung der Grenzen
Vom Redaktionsnetzwerk Deutschland im Oktober befragt, sagte Steinke: „Die aktuelle Migrationsdebatte ist geprägt von vielen Pauschalisierungen über Flucht und Zuwanderung. Dabei werden zu oft Drohkulissen aufgebaut und Ängste geschürt.“ Und dann: „Viel zu kurz kommt, dass Menschen in Not zu uns kommen, in ihrer Heimat nicht mehr leben können, die Angst haben,
gste geschürt.“ Und dann: „Viel zu kurz kommt, dass Menschen in Not zu uns kommen, in ihrer Heimat nicht mehr leben können, die Angst haben, nicht selten traumatisiert sind, die schlimme Dinge erlebt haben.“Einmal dürfen Sie raten, welche dieser beiden Ängste die Diskussionen in Deutschland bestimmt. Kleiner Tipp: Die Angst der Flüchtenden vor staatlicher Repression, ökonomischer Ausbeutung oder den Folgen des Klimawandels ist es nicht.Mehr Geld vom BundZum „Flüchtlingsgipfel“ traf sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht etwa mit Flüchtlingen, wie die Bezeichnung es eigentlich nahelegt, sondern mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder. Heraus kam, immerhin, etwas mehr Geld des Bundes für Unterbringung und Versorgung vor Ort. Heraus kamen aber vor allem Absichtserklärungen, den Geflüchteten das Leben noch schwerer zu machen: verminderte Sozialleistungen für drei statt eineinhalb Jahre, Bezahlkarte statt Geld, „Verbesserung“ von Abschiebungen, Aufrüstung an den EU-Außengrenzen.All das beruht auf der Idee, dass Menschen aufhören, vor Kriegen, Katastrophen, Verfolgung und Armut nach Europa zu flüchten, wenn sie hier schlechtere Lebensbedingungen vorfinden. Das ist ein vielfach widerlegter und in letzter Konsequenz demokratiegefährdender Irrglaube: Selbst wer das Ziel teilte, die Menschen von der Flucht abzuhalten, müsste doch irgendwann verstehen, dass Versprechen, die nicht einzulösen sind, Frust und Unruhe nur verstärken.Ein absurdes Beispiel lieferte die Gipfelrunde selbst. In ihrem Ergebnispapier heißt es, die Bundesregierung werde Asylverfahren außerhalb der EU „prüfen“ – ein Zugeständnis an entsprechende Forderungen aus der CDU. Aber noch bei der Präsentation des Papiers ließ Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) durchblicken, dass es sich um reine Symbolpolitik handelt: „Man muss am Ende des Tages jemanden finden, der das gemeinsam mit einem voranbringen will. Das ist nicht so leicht.“ So verwirft man faktisch, was man gerade beschlossen hat – unter humanitären Gesichtspunkten ein Glück, aber politisch ein Sargnagel der Glaubwürdigkeit.Christian Lindner, Chef einer ex-liberalen ParteiWas treibt die Politik dazu? Es sind, angeblich, die Bürgerinnen und Bürger selbst. „Die Bürger erwarten … eine Reduzierung insbesondere der irregulären beziehungsweise illegalen Migration nach Deutschland“, sagt Finanzminister Christian Lindner, Vorsitzender einer ex-liberalen Partei namens FDP, und fast wortgleich findet sich das im Abschlusspapier der Bund-Länder-Runde.Im Hintergrund ist sie also immer dabei, die Angst. „Die Bürger“, so wird unterstellt, fürchten sich vor „zu viel“ Einwanderung. Weil das so ist – so wird weiter unterstellt –, müssen wir um Demokratie und gesellschaftlichen Frieden fürchten. Um den zu retten – Unterstellung Nummer drei –, muss die Politik nun mal leider die Geflüchteten bekämpfen und nicht etwa die Angst. Letzteres nämlich, lässt sich hinzufügen, wäre nicht so einfach, denn es würde bedeuten, gegen die politisch verschuldeten Ursachen gesellschaftlicher Angstzustände vorzugehen. Von denen Migration keineswegs die wichtigste ist, entgegen der Dominanz des Themas im öffentlichen Diskurs.Unter den „Ängsten der Deutschen“, die eine Versicherung regelmäßig abfragen lässt, rangiert im Herbst 2023 die Kategorie „Überforderung des Staates durch Geflüchtete“ auf dem vierten Platz – 56 Prozent der Befragten teilen diese Sorge. Die Tendenz ist steigend, was angesichts der öffentlichen Fixierung auf das Thema nicht verwundert. Und es sind solche demoskopischen Befunde, auf denen Aussagen über „die Bürger“ (Lindner) und ihren Wunsch beruhen, die „irreguläre Migration einzudämmen“. Das sieht auf den ersten Blick auch wunderbar demokratisch aus: Die Politik (in einer ganz großen Koalition von ganz rechts bis zu grünen Führungsleuten) vollzieht den offensichtlichen Willen einer großen Mehrheit.Selbst wenn es so wäre, müsste festgestellt werden: Parteiübergreifend ist auch die Politik von Angst ergriffen, nämlich von Angst vor dem eigenen Volk. Politikerinnen und Politiker, die ihre Entscheidungen nach demoskopisch erhobenen Stimmungen ausrichten, die sie selbst mit geschürt haben, um sich dann darauf zu berufen, haben zweierlei vergessen: erstens ihre eigenen Überzeugungen, soweit sie sich von der vermeintlich vorherrschenden Stimmung unterscheiden; und zweitens die schlichte Tatsache, dass es so einfach nicht ist mit „den Bürgern“.Die Deutschen haben Angst vor dem AbstiegDie nämlich, so noch einmal die Ängste-Studie, sorgen sich um andere Dinge noch deutlich stärker: Die ersten drei Plätze der Rangliste nehmen die Bedrohungen durch steigende Lebenshaltungskosten (65 Prozent), unbezahlbare Wohnungen (60 Prozent) und „Steuererhöhungen/Leistungskürzungen“ (57 Prozent) ein. Abgesehen davon, dass auf Platz vier nicht etwa die Angst vor Migration oder gar vor Geflüchteten steht, sondern, wie zitiert, die Sorge, dass der Staat deren Folgen nicht bewältigt.Könnte es nicht sein, dass diese Sorge mit den anderen Ängsten, die noch größer sind, zu tun hat? Ist es nicht logisch, dass einem Staat, der Wirksames gegen fundamentale Existenz- und Abstiegsängste tut, auch das Bewältigen von Zuwanderung zugetraut würde? Hat schon mal jemand von Christian Lindner gehört, es müssten Leistungskürzungen ausgeschlossen werden, weil „die Bürger“ sich davor fürchten?Fluchtursachen und VerteilungsgerechtigkeitWomit wir beim eigentlichen Motiv der restriktiven Rhetorik und der entsprechenden Gesetzesverschärfungen wären: Die Fokussierung auf das Migrationsthema, so der naheliegende Verdacht, hat sehr wohl mit der Angst der Regierenden wie der meisten Opponierenden vor dem eigenen Volk zu tun. Aber in Wahrheit dürfte es die Angst vor der Unzufriedenheit mit einer Politik sein, die weder Fluchtursachen entschieden bekämpft noch die verunsichernden Aussichten auf noch mehr Verteilungsungerechtigkeit und existenzbedrohenden Klimawandel.Diese Ängste auf die Flüchtenden abzuwälzen, ist für die ganz große Koalition der Flüchtlingsabwehr so naheliegend wie zynisch. Denn eigentlich müssten alle wissen, dass das Spiel mit xenophoben Reflexen sie nicht vertreibt, sondern stärkt. Auf Kosten der Demokratie und des inneren Friedens, die da angeblich verteidigt werden sollen.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.