Architekt Oliver Elser: „Protestarchitektur zielt auf die Ewigkeit“
Interview Der Architekt Oliver Elser ist seit 2007 Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main. Hier zeigt er jetzt in der Ausstellung „Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“, welche Bauten Revolten hervorbringen
In der Ausstellung ist unter anderem eine Brücke aus dem Hambacher Forst zu sehen - eine Verbindung von funktionaler und symbolischer Architektur
Moritz Bernoully
Frankfurter Osten, ehemals Lager und Verkaufsgebäude des Neckermann-Versandhandels, hier sitzt seit vorletztem Winter übergangsweise das Deutsche Architekturmuseum. Inzwischen, erzählt Kurator Oliver Elser, habe der weite Bau mehrfach den Besitzer gewechselt. Pläne, alles abzureißen, wurden im Frühjahr gestoppt. Nicht, weil es Proteste gab – die neuen Eigner planten um.
der Freitag: Herr Elser, wieso interessiert sich das Architekturmuseum für die baulich eher flüchtige Form des Protests?
Oliver Elser: Vor allem wegen des Erfindungsreichtums und der Energie, die investiert wird, um das schier Unmögliche hinzubekommen. Unter widrigsten Umständen.
Wir sitzen hier vor der Brücke aus dem Hambacher Wald …
Da sind neue Schrauben drin
Wir sitzen hier vor der Brücke aus dem Hambacher Wald …Da sind neue Schrauben drin, aber das Holz, die Seile, das ist alles original, so wie sie im Wald auf vielen Metern Höhe hing. Diese Brücke war nützlich, um von Baumhaus zu Baumhaus zu kommen, um eine weitere Räumung durch die Polizei zu verzögern. Aber sie ist auch ein Symbol.Wofür?Sie ist ein unnötiger Aufwand. Die hätten einfach zwei Seile übereinander spannen können, auf denen man sich entlanghangelt, anstatt diese breite Brücke aus Holz zu bauen. Wir finden so etwas immer wieder, Protestarchitektur reflektiert sich, und zwar seit dem 19. Jahrhundert. Es geht stets auch darum, Bilder zu produzieren.Protestarchitektur denkt in Bildern?Ja, sie zielt auf die Ewigkeit, weil sie festgehalten, dokumentiert wird. Während sie noch steht, generiert sie aufgrund der symbolischen Wirkung Zuspruch. Menschen kommen vorbei, interessieren sich. Die Brücke zeigt, wir sitzen hier nicht primitiv auf den Bäumen, wir haben die Energie, gegen die Polizei anzugehen und auch dafür, nebenbei so etwas zu bauen. Oft zielt sie auch auf neue Formen des Zusammenlebens. In Madrid wurde 2011 eine riesige Zelt-Landschaft auf einem zentralen Platz errichtet. Das hat uns an das Olympiastadion in München erinnert. Unter den Zeltdächern konnten Versammlungen stattfinden, da wurde geschlafen, gekocht, es gab Infostände. Gleichzeitig spielte die Konstruktion mit einer Regelungslücke: Die Polizei hatte festgelegt, dass nicht gecampt werden konnte. Die Beteiligten konnten aber, weil sie keine abgeschlossenen Zelte hatten, darauf verweisen, dass es kein Camp gab. Sie hatten etwas Neues gebaut, sehr nah an der experimentellen Architektur.Sie setzen mit der Ausstellung 1830 in Paris an, nicht 1789, warum?Die Bildmächtigkeit der Französischen Revolution ist eine andere, sie hat nicht so viel mit baulichen Dingen zu tun. Die Bildproduktion im Bereich Barrikaden und Revolutionsromantik startet mit 1830, bei der Marianne auf dem Bild von Eugène Delacroix steht. Hier schiebt sich eine Barrikade in den Stadtraum, wo vorher keine sichtbare Grenze war.Was für grundlegende Funktionen hat Protestarchitektur?Wir unterscheiden zwischen klassischen Barrikaden, die eine Auftrennung in Freund-Feind-Verhältnisse stadträumlich, bildlich klären. Und urbanen Protestcamps, im Zucchotti-Park in New York, in Hongkong oder Madrid, die das Bewohnen, Zweckentfremden und Politisieren von Orten bedeuten. Camps in Wäldern und auf Feldern mischen häufig Verzögerungsarchitektur darunter …… also Bauten, die den Zugriff durch die Polizei erschweren sollen?Und die auch anders sind als Barrikaden, die oft einen äußeren Ring bilden: Wir kennen das aus Gorleben, Hambach, Lützerath. In Gorleben gab es einen Zwischenschritt, das Freundschaftshaus, die einzige Struktur, die von Architekt*innen vorgeplant wurde. Ein sehr ordentliches Haus, das eine Versammlungsfläche hatte, außerdem konnte man sich aufs Dach setzen. Sie verstanden, dass es viel komplizierter war, vom Dach geräumt zu werden, als einfach vom Boden mitgenommen zu werden.Höhe spielte fortan eine Rolle?Hier in der Ausstellung hängt ein Modell des Künstlers Stephan Mörsch im Maßstab 1:10 aus dem Hambacher Wald. Es sind Häuser, über Brücken und Traversen miteinander verbunden, die so in zehn, zwölf Metern Höhe in Bäumen eingehängt waren. Drei Menschen haben da für eine Verzögerung der Räumung von drei Wochen gesorgt. Das war sehr effektiv. In Lützerath hieß der zentrale mehrstöckige Bau für Workshops und Versammlungen Tower. Das war vom Ende her gedacht: Man kann in Mitteleuropa Türme bauen, weil man weiß, wenn man oben drinsitzt, wird die Polizei nicht einfach mit der Motorsäge kommen. In anderen Regionen der Welt kann man sich da nicht so sicher sein.Was haben Sie mit Blick auf Architektur über Proteste herausgefunden?Wir haben im Katalog 13 Case Studies recherchiert. Zum Beispiel sieht man der Majdan-Befestigung in Kiew früh an, wie bitter es enden würde. Die Notwendigkeit zur fast militärischen Befestigung schien sehr klar. Baumhäusern sieht man auch an, dass da Menschen in Bäumen, mit Bäumen leben wollen. Gorleben und die Siedlung an der Startbahn West hier in Frankfurt hatten viel mit Selbstverwirklichung zu tun. Ein Ausbruch aus der damaligen Welt, die Anlagen wirkten etwas wie Abenteuerspielplätze. In brasilianischen Landlosen-Camps sieht man, dass es eine Nichtregierungsorganisation gibt, die sie ausrüstet. Sie stößt damit in eine Lücke, die der Staat lässt. Die Organisation hat eine quasi-staatliche Bürokratie, die Siedlungen sehen sehr strukturiert aus.Haben Sie auch architektonische Fehler entdecken können, die dann zu Misserfolgen führten?Vielleicht gibt es Architektur, die Fehleinschätzungen ablesbar macht. Lützerath hatte sehr viele fantasievolle Bauten, sie haben stark mit Bildern gearbeitet, rechneten damit, dass sich der Polizeieinsatz quälend lange hinziehen, sich mehr Menschen solidarisieren würden. Sie haben sich stark über die Polizeistrategie geirrt. Die hatte eine Ringstraße gebaut und schnell Kontrolle über den Boden.Wenn Sie also ein Protestcamp bauen würden, worauf würden Sie achten?Es braucht viele Unterstützer*innen. Einen Zustrom an Material, an emotionalem Support. Dass es von außen getragen wird. Auf dem Majdan gab es rotierende Belegschaften. Menschen aus allen Regionen der Ukraine machten da zeitweilig mit. Das indische Beispiel, bei dem Farmer Autobahnen blockierten, lebte, weil Menschen in die Dörfer und zurück rotierten.Das ist wichtiger als die baulichen Strukturen?Die bilden sich naturgemäß von selbst. Je nachdem, wie der Ort beschaffen ist oder wie die Gewaltbereitschaft des Gegenübers eingeschätzt wird. Wichtig ist aber, eine bildmächtige Struktur zu schaffen. Die indigenen Proteste in Brasilia hatten einen starken baulichen Kontrast zu Oskar Niemeyers Gebäuden. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gab es zunächst eine lose Suk-Struktur, keine abgeschlossenen Einheiten. Monate später wurde ein riesiges weißes Zelt über den gesamten Kreisverkehr gespannt. Das war für uns interessant, ein hoher Aufwand, eine starke Bildformel. Aktivist*innen sagten uns aber, wir sollten das nicht so wichtig nehmen, das war das Werk einer Person mit Architekturhintergrund, die sich über alle Ratschläge hinwegsetzte. Darunter war es furchtbar heiß, es stank, war schlecht belüftet. Das Zelt war nicht Teil der Bewegung. Man kann es also auch übertreiben.Sie greifen auch das Festkleben der Letzten Generation im Titel auf. Ist das noch Architektur?Das lexikalische Stichwort im Katalog ist „Körpereinsatz“. Es gibt eine längere Tradition. Ich erinnere an die Greensboro Four, vier Afroamerikaner, die sich 1960 im Woolworth an den Lunch-Counter setzten und sagten, hier ist ein Stuhl, warum soll ich mich nicht setzen? Nur, weil da steht, „Für Weiße“? Es gibt außerdem oft das Motiv der Nacktheit. Dann gehtes darum, Bilder zu provozieren, die sich die Polizei nicht leisten kann.Bei der Letzten Generation geht es um fragile Barrikaden aus Körpern. Wird damit das Freund-Feind-Schema geklärt?Da verschiebt sich interessanterweise der Adressat. Angegriffen fühlen sich plötzlich Menschen, die im Stau stehen. Dabei operiert die Letzte Generation ohne Tarnung, ohne Waldnamen oder solche Dinge. Sie sind erstaunlich transparent. Ganz so, wie Jürgen Habermas den zivilen Ungehorsam definierte, eine begründete, angekündigte, vorsätzliche Verletzung von Regeln. Gewaltfrei.Provoziert die Barrikade gegen das als individuelle Freiheit apostrophierte Auto besonders?Vielleicht provoziert die Grenzziehung der Barrikade so eine Lynchstimmung. Der Ort ist unspezifisch, beinahe willkürlich. Würden sie permanent die Zentralen von Großkonzernen blockieren, könnten sich Menschen vielleicht eher damit identifizieren. Aber sie richten sich gegen alle. Sie sagen, ihr alle müsst euch ändern. Da ist es schwer, sich einzureihen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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