Wenn der vielsprachige, gewandte Sam Keller, Direktor der vornehmen Fondation Beyeler, im nicht minder vornehmen Basler Vorort Riehen eine Ausstellung eröffnet, sind die Werke immer herausragend und sensationell. Vielleicht fällt deshalb ein kleiner Nebensatz auf: Keller hält kurz inne, Untergeschoss des Renzo-Piano-Baus, kleine Bühne für die Pressevorstellung, Doris Salcedo sei hier nicht wegen ihres politischen Aktivismus. „Sondern wegen der herausragenden Qualität ihrer Arbeiten.“ Eine zarte Einschränkung, kleiner Verweis, in diesem wohlgenährten Umfeld (das Museum gehört zu den finanziell bestausgestattetsten der Welt, stellen Sie sich bitte Riehen als blitzblank gewienerten Wohlstand mit Blick auf stets idyllische Hügel vor
Aus dem Leben geraubt: Doris Salcedo in der Fondation Beyeler
Kunst Die kolumbianische Installationskünstlerin Doris Salcedo geht der Gewaltgeschichte der Welt nach – aktuell inmitten von blitzblank gewienertem Wohlstand in der Schweiz

„A Flor de Piel“ (links) erzählt von einer zu Tode gefolterten Krankenschwester
Foto: Mark Niedermann
vor) muss irgendwie klargemacht werden, dass politischer Ausdruck und Haltung eine Beglaubigung benötigen.Nun hat Sam Keller für diese Kombination eine Gewährsfrau in die Schweiz geladen: Die fulminante Plastikerin, Installationskünstlerin Doris Salcedo, geboren 1958 in Bogotá, wird gleich davon erzählen, dass ihre Perspektive durch den Globalen Süden geprägt ist.Diese Prägung vertieft sie durch Methode: Ihre Recherchen wenden sich Opfern von Gewalt und Vertreibung zu, Hinterbliebenen, sie erkundet Lebenslinien von Ermordeten, von denen, die auf Fluchten starben. Salcedo geht der Gewaltgeschichte der Welt nach, und ihrem weit ausgreifenden Unterbau: der Geschichte des Trauerns. Manchmal dauern Vorbereitungen drei Jahre, manchmal deutlich länger.Ihr Blick auf die Welt ankert in Zuständen, die an der Oberfläche in etwa das Gegenteil der Schweiz (oder Selbstbilds Europas) ausmachen – eine Allgegenwart von Gewalt: Folter durch den Staat, die Drogenmiliz Farc, Paramilitärs; politischer Terror, Korruption und Angst. In den vergangenen 45 Jahren ließen Polizei, Militär, oder die vom Staat tolerierten Paramilitärs über 60.000 Menschen verschwinden. Außerdem besitzen 0,4 Prozent der Bevölkerung 46,5 Prozent an Grund und Boden.Geschärfte Nadeln im GewandVon beschaulichen Orten wie Riehen scheint das undenkbar fern. Dabei liegen die Verbindungen knapp unter der Oberfläche: Zum Beispiel verhinderte das umsatzstärkste Unternehmen der Schweiz, der Rohstoffkonzern Glencore, über Jahre die gewerkschaftliche Organisation in seinen Kohleminen in Kolumbien, Gewerkschafter*innen wurde ermordet, Arbeiter*innen eingeschüchtert. Dörfern wird Wasser abgegraben, in der Luft hängt Kohlenstaub. Schweizer NGOs registrieren Gesundheitsprobleme und hohe Kindersterblichkeit, ein Massaker an Indigenen hatte wohl mit einem geplanten Kohlehafen zu tun. Im vergangenen Jahr musste der Konzern bei Strafermittlungsbehörden in Brasilien, Großbritannien und den USA um Entschuldigung bitten: Er zahlte jahrelang hohe Bestechungsgelder.Sam Keller fragt nach verdaulicheren Dingen: Wie geht es so?/Wie arbeitet sie so? Salcedo erzählt von ihrer kleinteiligen Spurensuche, die sie in Materialien, Formen und zuletzt immer mehr performative Arbeit übersetzt, in die Menschen ihre Leidens- und Trauergeschichten einbringen. „Ich will“, sagt sie, „als Kollektiv verstanden werden.“ So viel vorweg: Die Schau in Riehen verlässt man dann mit drängenden Fragen an die Banalität unserer Denkmäler.Aber dafür müssen wir hinauf, da öffnet sich das seltene Vergnügen, unterschiedliche Salcedo-Werkgruppen beieinander zu finden: In einem Raum liegt eine über fünf Meter lange, hauchzarte Decke, zu gleichen Teilen liebevoll und brutal aneinandergenähte Blätter von Rosenblüten: hervortretende Adern, ihre Farbe erinnert an geronnenes Blut. Sie wirft Falten, bedeckt den Boden, verweist zugleich auf ihn. Irgendwann müssen Blütenblätter vergehen, das Tuch spielt also in seiner Materialität organisches Vergehen selbst durch: A Flor de Piel (2011 – 12) erzählt die Geschichte einer aus dem Leben geraubten, zu Tode gefolterten Krankenschwester.Öfter hat Salcedo haltbareres Material in skulpturalen Arbeiten verwendet: Möbel. In Istanbul füllte sie eine Baulücke mit einer „Topografie des Krieges“ – eineinhalbtausend Stühlen, scheinbar chaotisch angeordnet, aber zur Straße hin mit flacher Oberfläche (Untitled, 2003). Salcedo wollte den Übergang von Alltag und Kriegsbeginn einfangen, ein Bild, „in dem das Private und das Politische kollidieren, völlige Desorientierung verursachen“.In der Fondation steht einiges Mobiliar: ineinander verschachtelte Schränke, Tische und Stühle, die mit Beton ausgegossen sind (Untitled, 1989 – 2016). Gelegentlich wachsen Armierungsstreben heraus, Wäsche ist eingebacken. Die Möbel sind unbenutzbar geworden, hilflose Zeugen einer Vergangenheit. Sie umstehen Hinterbliebene, haben ihre Trauer absorbiert, die nun grau und für immer in ihnen lastet. Die Trauer scheint Farben des Lebens auszubleichen, das geblümte Kleid darin, versteinert, ist eine deutliche, aber fahl gewordene Erinnerung.Und von den Möbeln des 20. Jahrhunderts (dunkles Holz, reduzierte Ornamentik, Kolonialstil) geht unangenehmer Druck aus, sie sind so angeordnet, dass sich Betrachter*innen aneinander vorbeischieben müssen, schmale Durchgänge zwingen uns in stumme Verhandlungen.Doris Salcedo hat zu Beginn ihrer Karriere im Theater gearbeitet, vielleicht erinnern die Möbel deshalb an Eugène Ionescos absurdes Theater. Zu den wenigen Erklärungen, auf die er sich eingelassen hat, gehören Bemerkungen zu seinem Stück Die Stühle von 1952. Die leeren Sitzmöbel sollten „die Abwesenheit der Menschen, die Abwesenheit des Kaisers, die Abwesenheit Gottes, die Abwesenheit der Materie, die Unwirklichkeit der Welt, die metaphysische Leere“ abbilden. Bei Salcedo greift diese Abwesenheit bedrückend in den Raum und nach uns.Dagegen wirken die zarten, wie ein Hauch an der Wand hängenden Gewänder von Disremembered (2013 – 21) gleichzeitig wie eine Einladung, sie überzustreifen, und eine verwehende Erinnerung. Allerdings sind ins luftige Seidengewebe Hunderte Nadeln eingearbeitet: geschwärzt, manchmal gebogen, gebrochen, immer aber geschärft. Zu ihrer berückenden Fragilität hat Salcedo erklärt, dass jedes Massaker immer Erinnerungen an ein vergangenes hervorruft. Leid bohrt sich tiefer in die Haut derer, die sich dieser Gewänder nicht mehr entledigen können.Wenn so viele Werkgruppen versammelt sind, zeigen sich auch Veränderungen in Salcedos Arbeitsweise – Palimpsest (2013 – 17) läutet eine andere Periode ein: Vorher unsichtbare Opfer werden nun benannt. In einer länglichen Halle drückt ein komplexer Mechanismus Wasser durch den Boden aus groben Steinplatten (gemahlener Marmor, Harz, Korund, Sand), formt Namen, die langsam wieder vergehen. Es sind die von Geflüchteten, die im Mittelmeer ertranken. Salcedo suchte und fand ihre Mütter in 35 Ländern.Pathos herauspressenAllerdings wirkt Palimpsest gegen andere Werke plötzlich etwas eindimensional: Die Verbindungen Wasser-Ertrinken und Versickern-Überschreiben, die Explizitheit der Namen lässt einen eher nach dem Mechanismus fragen, der neben Wasser auch einiges an Pathos aus dem Boden presst. Die Allgegenwart von abgedroschenen Formulierungen wie „die Erde weint“, die sich um die Arbeit gruppieren, lässt den Tod Geflüchteter in die Nähe natürlicher Prozesse rücken. Mit der Ambivalenz verliert die Installation das Übergreifende, Pathos verschmiert den Blick auf politische Prozesse.Das mag ein Blick aus einer europäischen Perspektive sein. Zu dem passt, dass die Berliner Philosophin Henrike Kohpeiß jüngst den Vorschlag machte, in „bürgerlicher Kälte“ einen zentralen Begriff für die affektive Struktur westlicher Gesellschaften zu sehen. Für Kohpeiß gründet sich bürgerliche Subjektivität „in Kolonialismus und der bürgerlichen Gesellschaft als zwei gleich ursprüngliche(n) Großprojekte(n) der europäischen Moderne“. Kälte ist das Schmiermittel, mit dem wir unsere Gewaltgeschichte verdrängen. Ein Subjektmodell ist dadurch entstanden, das „immer wieder ein rationales, europäisches Selbst gegen ein irrationales, koloniales Anderes kontrastiert“. Darunter zerbröselt die Medaille des Humanismus, die wir uns selbst verleihen, während wir uns immer weiter immunisieren, Leid, Flucht, Ursachen und Konsequenzen an Außengrenzen unserer Wahrnehmung schieben.Viele Aspekte in Doris Salcedos Arbeiten, so scheint es, erreichen uns nur mit Wucht, wenn wir diese Kälte bekämpfen.Placeholder infobox-1