Gleich wird es schwarzen Tee geben, helle Kekse, aber erst: Bedingungen. Rosemarie Tietze lacht ein wenig, es ist ihr wichtig, sie hebt die Arme zur Decke, wendet ihre Handflächen: Schreiben Sie bitte nichts über diese Wohnung! Einmal sei eine Reporterin vorbeigekommen, fabulierte hinterher von einer Bücherhöhle unter dem Dach. Seit 40 Jahren lebt Tietze hier, nur deshalb kann sie sich noch die Miete, vielleicht diesen Teil Münchens leisten. Ihr Lachen ist verschwunden, Empörung in der Stimme, Bücherhöhle, das mochte Rosemarie Tietze, geboren 1944 in Oberkirch, Baden, gar nicht. Scharfes Ausatmen.
Dann bringt sie Tee, eine Tasse aus Russland, golden verziert. Logische erste Frage, lange bevor wir zum Besuchsgrund, zu Gaito Gasdanows wunderbarem Erz
rem Erzählband Schwarze Schwäne kommen, nämlich Oberkirch, Baden: Von hier schaute man nach Kriegsende gen Westen, nach Frankreich, ein weiter Weg, denkt man, zur russischen Sprache und Literatur, zum Studium der Slawistik. Wie kam das zusammen?Kurzes Nachdenken, dann sagt Rosemarie Tietze, dass sie das lange selbst nicht verstanden habe. Aber doch: Von klein auf wollte sie Russisch lernen. Als sie die Sprache längst beherrschte, setzte sie Dinge zusammen, Erinnerungen, jemand erzählt ihr eine Geschichte, einen Lebenslauf. Das Zusammengesetzte: Ich bin November 44 geboren, im Januar 45 kam die letzte Nachricht von meinem Vater, der war Soldat und vermisst. Ist noch immer vermisst. Im Dialekt in der Familie hieß es: Der isch in Russland bliebe. Vielleicht war schon damit Russland als Thema gesetzt.Fremde VerhältnisseKindheit in Oberkirch: Die Mutter ist Hebamme, viel unterwegs, die Großmutter kümmert sich, die Enkelin liest, wirklich viel, sagt sie und lacht. Vielleicht, weil wir so viel über Baden sprechen, hört der Reporter jetzt das helle I im Ortsnamen, das R oben im Gaumen – ein Rest Südbaden.Russisch, Dinge über das Land zu lernen, ging erst auf der Universität. Tietze beginnt Theaterwissenschaft in Köln, hat einen schwierigen Start. Bei jedem Wort sagte jemand: Ach, Sie kommen ja aus Schwaben. Badener*innen kann so etwas den Tag verhageln. Ständig das Gefühl, die vom Land zu sein. Sie kommt nicht in eine Studiengruppe, wird nicht warm mit den Leuten. Hat sie das als Ressentiment gegen die Provinz empfunden? Ganz sympathischer Zug jetzt, eine Antwort aus einer Zeit, in der noch nicht hinter jeder Schwierigkeit strukturelle Ungerechtigkeit lauern soll: Ach, ich will das gar nicht beurteilen, kann auch meine Schüchternheit gewesen sein.Sie wechselt nach Wien, hier gibt es schon in den 1960er-Jahren einen anderen Blick nach Osten, sie belegt endlich Russischkurse, schreibt sich für Slawistik ein, fährt mit der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft nach Moskau. Zum Wintersemester 1969 zieht sie für ein Jahr ganz in die Stadt, feiert ihren 25. Geburtstag kurz nach der Ankunft, merkt: Russisch kann ich wirklich wenig.Verweis auf die Kerntätigkeit der Übersetzerin: Zurechtfinden in fremden Verhältnissen. Tietze hat einen Aufsatz für den Reporter ausgedruckt, Plädoyer für den sicht- und hörbaren Übersetzer. Schon 30 Jahre alt, sagt sie, aber noch immer gültig. Sie ermuntert seit Jahrzehnten Kolleg*innen, die „pathologische Bescheidenheit“ abzustreifen, nicht zu versuchen, sich unsichtbar zu machen. Rosemarie Tietze beugt sich vor: Schauen Sie, ich halte das für einen wichtigen Grundsatz – Musik, Kompositionen werden von Musikern interpretiert, im Theater sehen Sie Stücke mit Interpreten, den Schauspielern. Literatur wird in andere Sprachen übertragen, also von Übersetzern interpretiert. Das sind drei Formen darstellender Künste, die ich für vergleichbar halte. Zu jedem Satz klopft sie mit den Fingerkuppen auf den Tisch.Wann wurde ihr all das klar? Nachdenk-Pause. Während des Studiums will sie Dramaturgin werden, ans Theater, dann wachsen ihr Zweifel. Als sie für die Promotions-Recherche nach Moskau zieht, sieht, lernt sie Dinge, die sie begeistern, Prosa, Lyrik, Dramen; in Westdeutschland wusste man nichts über zeitgenössische russische Kultur: Ich wollte das mitbringen, bekannt machen. Sie lässt die Promotion fahren, entscheidet sich für einen Brotberuf: das Übersetzer-Dolmetscher-Examen. Später findet sie in ihrem Kindertagebuch den Eintrag, elf Jahre alt war sie. Wollte Übersetzerin werden.Nur war in den 1970ern die Idee, russische Gegenwartsliteratur zu übersetzen, felsiges Gelände: Staatstragende Autor*innen wurden in der DDR verlegt. Machen Sie doch Dissidenten, sagt man ihr, aber darum geht es ihr nicht, sondern um Literatur, Dissident oder nicht. Dann hilft ein Zufall zum 100. Geburtstag des Theateravantgardisten Wsewolod Meyerhold: Seine Texte waren schon in der DDR übersetzt, der Band sollte im Westen neu erscheinen. Der Verlag gibt die Übersetzung nicht frei. Sechs Wochen haben Rosemarie Tietze und ihre Kolleg*innen, es klingt nach einem Wahnsinn an Arbeit.Nichts dringt in den WestenSie versucht, Erzählungen in Anthologien unterzubringen. Erfolglos. Bei einer Tagung des Verbandes fragt sie ein sehr angesagter Übersetzer englischer Literatur, und jetzt muss man sich eine langsame, Überheblichkeit spielende Rosemarie-Tietze-Stimme vorstellen: Du redest da immer von russischer Gegenwartsprosa, gibt es da überhaupt Literatur? Sie legt sich die Hände an den Hals, schüttelt sich.Kurzer Umweg, heute sei die Situation ähnlich: Nichts dringe vom russischen Kulturleben in den Westen. Im reisefreien Jahr 2020 blühten dafür bei Youtube lange Gesprächsformate, Autor*innen und Kulturjournalist*innen durchleuchten Gegenwartskultur. Fantastische Diskussion, Tietze jubelt fast, so etwas komme im offiziellen Russland nicht vor, im Netz findet es Millionen Zuschauer. Jeden zweiten Tag muss ich mir da was anschauen!Seit den 1970ern reist sie jedes Jahr nach Osten, entdeckt für sich den Romancier Wassili Axjonow und die lange verbotene Dramatikerin Ljudmila Petruschewskaja. Beide kann sie Anfang der 1980er übersetzen, keine eingängigen Arbeiten, Erfolge sehen sehr anders aus. Dann kommen die 1990er, das Interesse wächst, Rosemarie Tietze schafft es, Andrej Bitow unterzubringen, zuerst ein Hörspiel, dann seine komplexen Romane. Schwere Kost, läuft es gut, übersetzt sie zweieinhalb Seiten am Tag.Und Gasdanow? Naja, drei, sagt sie und lacht. Gaito, eigentlich Georgi Iwanowitsch Gasdanow, Sohn ossetischstämmiger Eltern, kam 1903 in Petersburg zur Welt, der Vater Forstbeamter, zog mit der Familie nach Sibirien und in die Ukraine, abenteuerlustig stürzte sich der Sohn kaum 16-jährig nach der Kadettenschule in den russischen Bürgerkrieg: Dienst auf einem Panzerzug der Weißen. Nach der Niederlage gegen die Bolschewiki schaffte er es von der Krim in die Türkei, von dort nach Bulgarien, machte Abitur, gelangte 1923 nach Paris. Er schlug sich durch, als Lastenträger und Lokomotivenwäscher, Fabrik- und Büroarbeiter, auch mal ohne Obdach, lange mit Taxischein. In Paris, notiert Tietze im Nachwort zu Schwarze Schwäne, gab es einen Verband russischer Chauffeure mit 1.200 Mitgliedern, Grafen und Generäle am Steuer.Aber zur Übersetzung: Gasdanows Erzähler beschreiben, sortieren Eindrücke in Bewusstseinsströmen, träumen, oft in einem schwebenden Ton. Tietze holt aus einer Mappe erste Entwürfe, in der Rohform stellt sie alle denkbaren Übersetzungen einzelner Worte in eine Reihe, unlesbare Sätze ergibt das, in nächsten Schritten streicht sie, kämpft sich durch die Charakteristik der Worte, untersucht den Ton.Gasdanows Einstiege sind schwierig, indirekt, er bastelt kleine Hürden, nutzt Worte mit verneinendem Präfix, all das findet sich schon zu Beginn der betörenden, ganz ausweglosen Erzählung Genossin Brack: „Mir schien es stets unbezweifelbar, dass Tatjana Brack vor unserer Zeit und anderer historischer Umgebung hätte zur Welt kommen müssen.“ Jetzt wird Rosemarie Tietze ein wenig schüchtern mit ihren Notizen, viel will sie nicht zeigen, lachende Erklärung nebenbei: weder haben Towarischtsch noch Brak im Russischen eine Geschlechtskennung, klängen männlich und entschlossen, ein Spiel der Konnotation. Hat sie das „stets“ dem „immer“ für sprachliche Patinierung vorgezogen? Nein, knappe Antwort, eine Silbe sei besser für den Satzrhythmus.Gasdanows schaukelnden Ton kann man sich auch als Schiffchen zwischen großen Wellen vorstellen, sein Personal wie von der rauen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durcheinandergeworfen – den Dingen ausgesetzt, damit beschäftigt, Konsequenzen von Entscheidungen auszubaden, die sie selbst kaum trafen. Selten urteilen sie großartig, überhaupt macht Moral wenig Sinn in ihren Situationen: Niemand würde sich für ihre Meinungen interessieren. Es sind Gestalten in Nischen der Gesellschaft, von Emigration, Arbeit, Geldnot entkernt, manchmal „ohne seelisches Mitleid“, – wie es im titelgebenden Stück heißt – nur ausgestattet mit dem „Mitleid der Logik“.Ende der 1990er Jahre hört Rosemarie Tietze zum ersten Mal von ihm – was, Sie kennen Gasdanow nicht? Der schreibt besser als Nabokov! Zwar hatte sich Maxim Gorki für ihn eingesetzt, er bekam Lob von Ivan Bunin, genützt hat es nicht, die Honorare blieben schmal. Als er mit 50 Jahren seinen ersten Job als Kulturredakteur bei Radio Liberty antrat, sogar länger in München lebte, verhinderte auch das den Import seiner Werke: Er arbeitete nun für den Propagandasender der USA. Gasdanow starb 1971, über 20 Jahre nach seinem Tod hatte sich seine Literatur in spärlichen Rinnsalen nach Russland gebahnt.Rosemarie Tietze las also, lief begeistert zum Hanser Verlag. Kurzer Einblick in ihre Hartnäckigkeit und die Fähigkeit, Enthusiasmus gegen Widerstände zu bewahren, sie senkt ihre Stimme, spricht langsamer, die Reaktionen im Verlag waren in etwa so: Ein Russe. Oha. Schon tot. Hm. Acht Jahre dauerte es, bis Das Phantom des Alexander Wolf erschien, der Roman wurde ein Hit.Jetzt sitzen wir seit Stunden, eine ungeminderte Konzentration geht von Rosemarie Tietze aus, eine Begeisterung für Literatur, Kunst, Kultur, auch Entsetzen darüber, dass sich Kulturräume wieder verschließen, voneinander abwenden, aus Strömen wieder Rinnsalen werden. Sie macht eine Handbewegung, es gibt noch Tee.Placeholder infobox-1