Paris ist die Stadt, am Volant sitzt ein eigenwilliger Erzähler, er ist oft der einzige Nüchterne unter trunkenen Gestalten, Bewohnern von Halbwelten, solchen, die herabsinken in Wahn oder den Stand der Clochards. Poetische Beobachtungen stehen neben Selbstbefragungen und harschen Urteilen, bevor der Blick wieder zum Kaleidoskop zurückkehrt, das die oft nur skizzierten Figuren um den Nachtchauffeur zusammenfügen – viele wirken, als seien sie kaum unterschiedliche Personen, sondern Angehörige einer wimmelnden Gesamtheit, einer trägen, gleichzeitig gespannten Menge, die ohne einen Sinn zu ergeben, in den Blick des Erzählers rückt.
In jedem Moment können kaum vorhersehbare Bewegungen losbrechen, Grausamkeit und Niedertracht quellen auf, Alkohol beschleunigt den Niedergang, die Grundstimmung ist melancholisch und illusionslos. Der oft missmutige, im nächsten Moment nachsichtige Beobachter will sich eigentlich heraushalten. Zögerlich gibt der Erzähler preis, dass er sein Leben etliche Male neu beginnen musste, „bedingt durch außergewöhnliche Ereignisse, die mich, wie meine ganze Generation, überrollten – Bürgerkriege und Niederlagen, Revolution, Emigration, Schiffsreisen im Laderaum oder an Deck, fremde Länder, zu rasch wechselnde Umstände, mit einem Wort, ein schroffer Gegensatz zu dem, was ich mir nach alter Gewohnheit vorstellte: ein altes Haus, mit denselben Stufen vor derselben Türe, denselben Zimmern, denselben Möbeln, denselben Bücherregalen, mit Bäumen, die (...) schon vor meiner Geburt existierten und nach meinem Tod weiter wachsen würden ...“ Das frühe zwanzigste Jahrhundert, die Umwälzungen in Russland haben ihn herausgeschleudert aus der alten Welt. Und mit dem Heraushalten ist es so eine Sache.
Gaito Gasdanows Nächtliche Wege sind mitreißende, autobiografisch gefärbte Streifzüge im Rhythmus seiner Fahrten durch Paris und die Welt: Gasdanow, geboren 1903 in eine ossetische Familie in St. Petersburg, 1919 Weißarmist auf einem Panzerzug, in Istanbul interniert, Abitur in Bulgarien, war 1923 nach Paris gekommen, wo bald rund 50.000 russische Emigranten lebten. Er arbeitete in Fabriken, wusch Lokomotiven, landete auf der Straße, veröffentlichte erste Prosatexte, hörte Vorlesungen an der Sorbonne, wurde schließlich Taxifahrer – ging also einem fast stereotypen Einwanderer-Gelderwerb nach.
Verwischte Bekanntschaften
Sein erster Roman Ein Abend bei Claire erschien 1930 in einem Emigrantenverlag, wurde als „echtes literarisches Ereignis“ gefeiert, nicht wenige verglichen Gasdanow mit Nabokov, an seiner miserablen finanziellen Situation änderte das wenig. Anders als Nabokov trat er nie aus dem Dunstkreis russischsprachiger Exilliteratur, geriet in Vergessenheit – auch weil er, anders als sein bald weltberühmter Zeitgenosse, eben nie die Sprache wechselte.
Und auch wenn er mit dem Roman aus dem Blick des Taxifahrers ein zutiefst modernes Sujet fand, fielen ihm die russische Sprache und die Verankerung im Milieu der Einwanderer auf die Füße: Die schnelle Folge der Begegnungen, denen starre Stunden der Warterei gegenüberstehen, die verwischten Bekanntschaften, die absurden Beobachtungen nehmen Geschwindigkeit und Vielschichtigkeit der modernen Großstadt auf, der Nachtchauffeur beobachtet, urteilt, erduldet aus seiner reduzierten Sicht.
Der Grundton der russischen Emigrationsliteratur um Ivan Bunin oder Dmitri Mereschkowski schaute dagegen nostalgisch auf eine untergegangene Welt zurück. Gasdanows impressionistische Erzählung hat sich mit Fragen des Existenzialismus vollgesogen – einer der Protagonisten geht an der grundsätzlichen Frage nach Sinn zugrunde, streift ziellos durch das Milieu der Emigranten, Bars und Cafés, schaut am Tag Proleten über die Schultern. Er lauscht Diskussionen akademisch hochgebildeter Taxifahrer, erlebt Hierarchie und absurd organisierte Arbeitsformen der Zwischenkriegsgesellschaft in Büros und Fabriken – sogar die Clochards hatten feste, bürgerliche Prinzipien vom Recht auf Eigentum.
Vieles wirkt taufrisch und doch erschreckend schnell vergessen, gerade vor der Folie hunderttausendfacher Zuwanderung nach Europa. Aus der vielfach gebrochenen Perspektive des russischen Einwanderers, des Außenseiters und Chauffeurs blickt da einer auf eine Welt aus den Fugen, auf seine Weise einsam, wie alle anderen auf ihre: unmöglich, die Verhältnisse zu verstehen, sich ihnen mit genügend Geduld zu widmen, letztlich in ihnen heimisch zu werden. Heraus kommt ein unbefriedigender, widersprüchlicher Umgang mit der Welt, oberflächlich und abweisend, wo er zugewandt und zärtlich sein will. Tiefes Bedauern zieht sich durch elegante Prosa und wunderbare Nachtfahrten, geht weit darüber hinaus: „Das Bedauern, das ich im Bewusstsein dieser Unmöglichkeit verspürte, zog sich durch mein ganzes Leben.“
Info
Nächtliche Wege Gaito Gasdanow Christiane Körner (Übers.), Hanser 2018, 288 S, 23,00€
Die Bilder des Spezials
Zuerst ist da ein leeres weißes Blatt Papier mit unendlichen Möglichkeiten, bald findet sich darauf eine absurde Welt der Abstraktion. Zu sehen sind fiktive Gebäude, unendliche Tunnel, lauernde Treppen. Es gibt rätselhafte Hinweise. Nur: Nie führen diese zur Auflösung des Rätsels.
Die Illustratorin Pia-Mélissa Laroche, Jahrgang 1985, zeichnet surreale Welten. Sie will die Macht der Suggestion hinterfragen. Sie sagt: „Wie die Krypten der christlichen Kirchen oder Nabateans Gräber sind diese architektonischen Strukturen direkt in den Boden gehauen. Sie drängen sich durch Subtraktion auf, um unzerstörbar und mehr als je zuvor zu werden. Mit einer extremen Haltbarkeit trotzen die ,Hyper Residenezen‘ Zeit und Raum.“ Laroche lebt und arbeitet in Paris.
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