Man kann nicht alles durch Covid-19 lesen, aber dass es in der oberen Etage des Kunstmuseums in Wolfsburg vollkommen leer ist, mag damit zusammenhängen. Vielleicht liegt es auch daran, dass es viele Kunstformen in der Autobauer- und Ingenieursstadt schwerer haben. Der Internetauftritt des Museums ist außerdem für Ulrich Hensels Fotografie überhaupt keine gute Werbung. Jedenfalls laufen sogar die Aufseher auf den Gast zu, grüßen, schauen drein, als freuten sie sich, endlich ihre Stimme einmal wieder zu hören. Und was ein Glück für den Besucher: Er kann in völliger Abgeschiedenheit die großen Formate an den Wänden betrachten.
Überraschende Freude, man kann gar nicht genug bekommen von den Aufnahmen, die erstmals in einem Museum gezeigt werden: Der 1947 in Düsseldorf geborene Hensel treibt sich auf Baustellen herum, bei Renovierungsarbeiten, blickt auf Verschalungen, Dämmmaterialien, Bleche, Teerschichten, darunter festgerüttelte Erde, Ausschachtungen. Hieroglyphisch mäandern Markierungen über groben Zement, die Schriftzüge der Hersteller wiederholen sich bis zur Sinnlosigkeit, Verweise auf Materialien – all das sind Informationen für ein schmales Publikum, eine Kommunikationsform der Spezialisten, die hier wohl etwas anschließen, aufmeißeln müssen. Dazwischen ragen Stahlstreben aus einem Sockel, Spundwände sind in den Boden gerammt, Rohrleitungen haben bunte Verschlüsse, eine frisch vermauerte Tür ist gerahmt von Schichten, die schrittweise ernster, dunkler, robuster werden.
Hensel lässt das sicher logisch aufgebaute Gewimmel abfotografieren, und schon werden aus den mit Sinn und Handwerkerverstand sich zueinander verhaltenden Elementen Bilderschichten, Flöze, Rätsel. Man könnte die Aufnahmen salopp einer randständigen Form der Straßenfotografie zuordnen, in ihr wirkt durch den Übertritt in Museum oder Galerie eine semantische Verschiebung: Hensel komponiert im technischen Prozess geschlossene Bildwelten. Aufnahmen, die sich dem überraschend bunten Innenleben unserer äußerlich so gerne rasterfassadengrauen Stadtmöblierung widmen. Wenn sich das dann weit und hoch über weiße Wände streckt, sind wir als Museumsbesucher angehalten, einen verwirrend dichten symbolischen Gehalt zu entziffern.
Die Bauzäune machen weiter
Es scheint, als schöpften die Arbeiten aus dem Kanon der Kunstgeschichte, hier könnte Mondrian durchschimmern, dort Mark Rothko, dieses ähnelt dem Triptychon eines Altarbildes, hier scheinen sich klassizistische Landschaften aufzutun, Waldraine, Gewässer, Horizonte: Man kann im Bildaufbau fleckiges Polareis auf dem Meer erkennen, Kornfelder, Horizonte, kubistische Sonnenuntergänge. Vielleicht färbt Wolfsburg die Wahrnehmung – eine Fotografie wirkt wie eine kolorierte Variante des „Celler Lochs“, mit dem Niedersachsens Verfassungsschutz einst einen putzigen Anschlag der RAF fingierte.
Die Bilder haben eine überraschende Haptik, man kann beinahe spüren, wie sie sich mit feiner Ironie auf nüchterne Gegenständlichkeit und banale Materialität ihrer Motive zurückziehen. Und dabei Fragen an die Autorschaft stellen, Bauarbeiter, der Fotograf und Hensel selbst wirken hier zusammen. Auch wenn Andreas Beitin, Museumsdirektor und Kurator der Ausstellung, Hensels Arbeiten im besten Sinn als „ironiefrei“ beschreibt, weisen sie auch auf das schlichte Denken in Mustern hin, nehmen ihm aber den oberseminarhaften Ernst. Ab und an fasst noch die Natur selbst, als Wurzel, Erdreich ins Bild und wirkt wie die Stilisierung ihrer selbst. Oder, wie Beitin einwirft, als Semiotik des Anthropozäns, das durch die Verdrängung der Natur in der Baustelle ihr verdichtetes Mal findet.
Dabei fangen die Aufnahmen fragile Momente ein, die am nächsten Tag vermutlich nicht mehr existieren, wenn nächste Fassadenschichten die Farben verdecken und Landschaften verschoben haben, wenn Pfeiler und Stützen die stumpfen Ankerpunkte mit ihren gelben Hütchen aufgenommen haben. Die Idee, Alltagsszenen in Kunstproduktion zu übertragen, ist nicht ganz taufrisch, aber von den Bildern geht ein befreiendes Gefühl aus: Die unvermittelte Gegenständlichkeit der Motive fordert die Zuschauer und drückt sie nicht platt gegen die Wand des Authentischen. Hensel betreibt eine hintergründige Mechanik zwischen Blicken und Schauen, die Aufnahmen wirken wie Relikte einer vergangenen, mehrdeutigen Kunstmoderne, leider konnte sich das Museum einen Zaunpfahl-Hinweis beim Titel nicht verkneifen, Zwischenwelten heißt die Schau, während der 2014 erschienene Bildband noch den angenehmen Titel Sites trug.
Dann tritt man hinaus in die irrwitzige Stadt Wolfsburg und möchte sofort ein gewaltiges Museum um diese selbst gebaut wissen. Man könnte staunend hindurchlaufen und nach Ulrich Hensels strenger Schule noch die absurde skulpturale Dimension dieser Siedlung einfangen.
Info
Ulrich Hensel. Zwischenwelten Kunstmuseum Wolfsburg, bis 8. November
Ulrich Hensel. Sites Texte von Raimund Stecker, Ralph Heusner, Hatje Cantz Verlag 2020, 120 S., 39,80 €
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