Neuauflage Iwan Schmeljows „Der Toten Sonne“ erschien vor etwa 100 Jahren und wurde da gleich vielfach übersetzt. Thomas Mann empfahl ihn mehrfach für den Literaturnobelpreis
Nach der Niederlage der „Weißen“ überzogen die Bolschewiki die Region einer gnadenlosen Sowjetisierung
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Ein Mann sitzt vor seinem Haus, schaut vom Hügel auf das Meer tief zu seinen Füßen. Er hat hier oben Brachland urbar gemacht, Mandelbäume angebaut, gepflegt, geerntet, in Schluchten ringsum Feuerholz geschlagen, hält Hühner, einen Pfau. Noch brennt die Augustsonne: „Stille und Glut. Nicht einmal das Spinnennetz zwischen Zeder und Zypresse zittert (…). Im Kopf Glockengeläut und Schreie. Ist das Hungerkrach? Meine inneren Augen erspähen rote Fetzen. Die Verworfenheit des Lebens …“ Der Mann schaut auf ein Doppelbild, auf ein Gemetzel, regellose Willkür, die über die Gegend gekommen ist: Die „neue Macht“ beschlagnahmt, foltert, stiehlt, vergewaltigt, mordet – das weht als Erzählungen zu ihm herauf.
uf. Nachbarn berichten davon. Aber die neue Macht lässt die Menschen auch verhungern, lässt sie zu Raubtieren werden, schlimmer noch, stellt er später fest, zu Höhlenmenschen ohne Fell. Das erfährt er am eigenen Leib.Das ist das eine Bild, auf das der Mann in Iwan Schmeljows Hauptwerk Der Toten Sonne – 1923 erschienen, vielfach übersetzt, Thomas Mann schlug Schmeljow mehrfach für den Literaturnobelpreis vor – schaut, außerdem aber noch auf die dräuende Natur. Sie ist widerborstig, Menschen verheddern sich immer wieder in Gestrüpp und Reben (als würde auch die Natur einen tödlichen Griff nach ihnen strecken), leiden unter Hitze, müssen Stürmen trotzen. Später verliert einer im Schnee den Verstand.Der Blick auf das Meer erkennt keine Schönheit. Sicher, die heraufziehende Moderne hat bereits das Bild der anmutigen Landschaft behauptet, richtig durchgesetzt hat sie sich damit noch nicht, die materielle Basis dafür fehlt: Die Bewohner des Hügels und der Siedlung weiter unten werden von der modernen Gewalt auf ihre Gärten zurückgeworfen, müssen von Mandelbäumen leben, von Weinblättern, ominösen Ölkuchen, von dem, was sie in Schluchten finden, den Tieren abtrotzen. Die Natur, ihre Launen, die Schmeljow plastisch erfahrbar macht, bedrängt, sie ängstigt.Beide Ebenen verbindet ungemeine literarische Eleganz, mit der Schmeljow eben die drückende Nachmittagshitze illustriert, die den Erzähler umgibt – allein die Reihung der Frikative (Genießer sprechen von stimmhaften, mit der Zungenspitze gebildeten Reibelauten), die jene ausgedörrte Stille zwischen Zeder und Zypresse markieren, sind reiner Genuss. Es gibt viele solcher Feinheiten. Sie täuschen nicht darüber hinweg, dass die lastende Lebensfeindlichkeit der Natur mit der alles erschlagenden neuen Macht konkurriert. Die ist über die Krim hereingebrochen, den Schauplatz dieses düsteren, zugleich hell leuchtenden Romans, wie ein böses Unwetter: Ab 1920, nach der Niederlage der „Weißen“ unter Oberbefehlshaber Pjotr Nikolajewitsch Wrangel, überzogen die Bolschewiki mit Lenins Zustimmung die Region einer gnadenlosen Sowjetisierung. Die neue Macht bedeutete: ein Blutbad. In Der Toten Sonne schaut der Erzähler auf Willkür, hört von Verhafteten, Gefolterten, erlebt sozialen Verfall – Nachbarn wenden sich zuerst nach innen und dann gegeneinander, bestehlen und verraten sich.Die Weißen, also die Gegner aus dem Bürgerkrieg, hatten sie vertrieben oder mit Amnestie-Versprechen gelockt: Wer darauf vertraute, war todgeweiht. Die Grünen schließlich (Partisanen gegen die Sowjetunion) schlugen sich in die Wälder, wurden brutal verfolgt. Dem Erzähler begegnet der Doktor, einst eine geachtete Figur in der Gegend, der Hunger hat aus ihm eine monologisierende, irrwitzige Karikatur gemacht. Er hat berechnet, ohne Gerichtsverfahren seien in knapp drei Monaten „an Menschenfleisch achttausend, wenn nicht neuntausend Eisenbahnwaggons zusammengeschossen“ worden.Historiker haben dafür die Namen Béla Kun und Rosalia Semljatschka zusammengetragen (ihre Namen werden dem Erzähler zugeraunt), neben dem Vorsitzenden des Revolutionären Komitees und der Sekretärin des Oblasts Krim verantwortete Semjon Dukelski als Chef der Tscheka maßgeblich eine Terrorwelle, bei der geschätzt 70.000 Menschen ermordet wurden. An Hunger und Krankheiten verendeten noch einmal vermutlich 100.000 – genaue Zahlen gibt es nicht. Dem Doktor, der das überblickt, flattern die Hände, zittert das Kinn. „Seine Lippen sind fahl, das Zahnfleisch ist bläulich, der Blick trüb. Ohne Frage wird auch er bald von uns gehen. Auf allen Stirnen prangt heute das Siegel des Dahinscheidens.“Der Sohn wurde erschossenIwan Sergejewitsch Schmeljow wurde 1873 in eine wohlhabende Holzhändlerfamilie hineingeboren. Die Familie war streng religiös, lebte in Samoskworetschje, „hinter dem Moskau-Fluss“, einem Moskauer Stadtteil voller altgläubiger Geschäftsleute und Handwerker. In seiner Autobiografie von 1913 erzählt er, die strenge Atmosphäre des Elternhauses und der Hof mit vielen Bediensteten hätten ihn wesentlich beeinflusst. „Hier erlebte er die Mentalität, den Humor, die Sentimentalität und das Leiden der einfachen Menschen, hier wurde er mit ihren Geschichten, Märchen und Gebräuchen, mit ihrem Glauben und Volksglauben und mit ihrer Umgangssprache vertraut“, fasst der Slavist Wolfgang Schriek zusammen. All das wurde Schmeljows literarisches Reservoir – er ist ein Autor, der Alltag und Nöte der einfachen Bevölkerung in den Blick rückt.Aus dieser Perspektive schaut er in seinem ersten Erfolg Der Mensch aus dem Restaurant (1911) durch die Augen eines Kellners auf die Sitten der feinen Gesellschaft – diejenigen, die rasch aufsteigen wollen, mit schnell verdientem Geld, benehmen sich ebenso fix daneben, hinter ehrbaren Fassaden wird gehurt und geprügelt. Lehrer und Revoluzzer, die also Arbeiter erziehen und ihnen zur Macht verhelfen wollen, behandeln den Kellner mindestens schlecht, betrügen ihn nicht selten. Und als er nach einem Gelage aufkehrt, viel Geld findet und einsteckt, erlebt er einen Raskolnikoff-Moment – er unterschlägt, was niemand vermisst, wird aber von seinem Gewissen geplagt. Auf dem Heimweg steht er paralysiert auf der Straße, jetzt geht es ums Ganze, um Moral und Glauben, um das ehrbare Leben und den Verlust aller Autorität: „Ich fürchte mich vor mir selbst. Was denn? Das ganze Leben – einfach wegwischen? Und dabei war dieses Leben, dieses Hundeleben doch das einzige, was ich hatte, und es war fleckenlos …“Trotz religiöser Erziehung und juristischem Studium hatte es Schmeljow zu den Sozialisten gezogen – Maxim Gorki war auf ihn aufmerksam geworden, Der Mensch aus dem Restaurant begründete seinen Ruf als realistischer Schriftsteller. Für die Februarrevolution von 1917 begeisterte er sich noch, auch wenn er der immer sichtbareren Brutalität der Bolschewiki wohl mit humanistischem Befremden gegenüberstand.All das kann man im Hinterkopf bewahren, wenn man sich an die Lektüre von Der Toten Sonne macht. Denn 1918 war Schmeljow mit seiner Frau Olga auf die Krim gezogen, erfuhr hier, dass die Rotarmisten ihren Sohn erschossen hatten. „Als Schmeljow mit der Arbeit an Der Toten Sonne beginnt“, schreibt die Übersetzerin Christiane Pöhlmann in ihrem pointierten Nachwort, „ist er dem Terror und dem Hunger auf der Krim knapp entkommen.“ Iwan Schmeljow stirbt 1950 im Exil, sein Erzähler auf dem Hügel ist ein Chronist der Höllen-Kreise. Auch in Der Toten Sonne spricht ein Autor dabei durch den Mund seiner Hauptfigur, wie Wolfang Schriek es formuliert, „über das Innerste und das Zeitlose“.Heute liegt ein drittes Bild über allem: Seit 2014 sind Teile der Ukraine wieder besetzt, die Krim annektiert. Zehntausende Kinder verschleppt, Menschen verhaftet, verurteilt, ermordet. Seit zwei Jahren wird das Land täglich bombardiert, Hunger und Mangel produziert. Schmeljow, kann man denken, diese großartige Literatur, müssten jene lesen, die nach Verhandlungen schreien, von Gebietsabtretungen reden, sich aus Selbstzweck mit der neuen Macht arrangieren wollen.Placeholder infobox-1
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