Was kommt übers Meer? Erste Aufnahmen schauen hinaus, das Land im Rücken, Dunst zieht auf, zwei Frauen in Torquay halten sich im halb aufgeblasenen Schlauchboot aneinander, keine ausgelassene Geste. Über Rhossili Beach drohen Gewitterwolken. Ungemütlich ist es, man möchte den Kragen hochschlagen: Sowohl an Englands Südküste als auch vor Wales wittert Isabelle Graeffs Fotostrecke Exit gleich zum Auftakt Ungemach.
Isabelle Graeff wurde vor einer Weile mit einem Zyklus über ihre Mutter zum Darling von Berlin-Mitte-Galerien. Die Serie Exit erzählt nun von ihrer Rückkehr nach Großbritannien, eher lose Beobachtungen, als dass sie eine genaue Klammer zusammenhalten würde. Das Mehrheits-Votum, die EU zu verlassen, lässt soziale Narrative durch Aufnahmen schimmern, die auch als persönliche Beobachtungen funktionieren, jedenfalls wirken die Bilder oft flüchtig, beliebig, tanken aber als Reihe Geschmack und Farbe. Ganz so, als ließen sich abgeplatzter Putz, leere Pinnwände kaum mehr lösen vom Gewitter aus Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und allgemein dummem Geschwätz, das hier gerade tobte.
Isabelle Graeff, 1977 in Heidelberg geboren, hat in Großbritannien studiert. Sie durchmisst den Kulturraum als eingeweihter Gast, wendet sich ihm zärtlich zu – malt nicht mit Martin Parrs plakativer Polemik Absurditäten einer Gesellschaft aus, hat nicht die historische Tiefenschärfe, mit der Chris Killip Deindustrialisierung, Proletariat, soziale Ausgrenzung begleitet. Vielleicht weil sie nicht auf Idiosynkrasien erpicht ist, durchweht Graeffs Bilder eine gewisse Melancholie, sogar Fatalismus, öffnen sich Assoziationsräume, die deutlich über Großbritannien hinausgehen: Die adipöse Frau im elektrischen Rollstuhl unter dem Lucky-Wok-Schild könnte auch in Brandenburg an der Havel vor Gier nach Glibberpudding unter versehrten Fassaden beinahe vornüberkippen. Der namenlose Raucher könnte sich in Budapest am Morgen zur irrwitzig hässlichen Kombination aus taubengrauen Socken, Sandalen und beigen Hosen entschieden haben. Auch in der France profonde sehen halb abgebaute Kirmesstände trist aus, die Verheißungen von Glück und schnellem Geld verbleichen vor Spielhöllen in Brüssel ähnlich.
Abschied, heißt es in Rilkes Gedicht von 1906, ist „ein dunkles unverwundnes grausames Etwas“, das man also kaum versteht oder überwindet, das sich gegen einen wendet, mit dem man leben muss, bis es vielleicht vernarbt. Halb verdaut und nüchterner betrachtet, wirkt, was man da verlässt, was sich von einem fortbewegt hat, oft wie ein banaler, selbstbezogener Prozess: „Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen, / ein leise Weiterwinkendes – , schon kaum / erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum, / von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.“
Müll für die Welt
Graeffs Exit-Beobachtungen kümmern sich um dieses leise, befremdliche Weiterwinken, unzynisch, ohne Voyeurismus, kein Sozialporno. Sie reist, sammelt Beobachtungen, die auf den zweiten Blick miteinander funktionieren. Es ist, als webten sie einen Orgelton durch die Reihe, eine Akkordfolge zum Abschied von Illusionen: Einige Versprechungen des Kapitalismus funktionieren, Billigflieger transportieren uns an Orte, die in unserer Elterngeneration wie unerreichbare Ziele vorkommen mussten. Jetzt können wir überall Müll hinterlassen. Darüber sind Utopie von Gesellschaft und Gemeinschaft dünn gerieben, ganz wie Fassaden von Vergnügungstempeln, in denen wir Geld verlieren. Das Band, das Menschen aneinander bindet, zueinander stellt, ist die Profitrate, weltfremd, wer anderes erwartete. Und wo nichts zu holen ist, wird außer Unkraut wenig wachsen. Angesichts des Brexits wird der Gedanke, dass rationale Argumente über Stumpfsinn triumphieren müssten, zunehmend absurd. Passt dazu Graeffs Aufnahme von der im Straßenpflaster versickernden verschütteten Milch?
Ursachen, Folgen, Nebenkriegsschauplätze schmuggeln sich in Graeffs Bilder wie stille Künder: Erschöpfte Gesichter, Alternative zu ihren Lebensentwürfen ist halb durchdachte Theorie weitab von Macht und Durchsetzbarkeit. Die Entfernung illustriert eine Aufnahme vom Markstand – billige Blumen und Obst, die Kisten erzählen es: Von weit her angekarrt, viele sind längst auf sie angewiesen. Vielleicht helfen gegen steigende Mieten und brüchige Bausubstanz in Weston-super-Mare Ritterrüstungen, Traditionsuniformen. Seltsamer, rückwärtsgewandter Stolz, Ohnmacht vor Sozialbauwohnungen. Nächstens sollen es dann Libertäre, Nationalisten richten, Politiker, die eigenen Versprechen selbst kaum glauben. Im Zweifel, und das stimmt auch in Hamburg oder Warschau, soll es so gut wie uns eben nicht allen gehen. Deshalb stehen wir schäbig gekleidet in selbst bei Sonnenlicht fahlen Aufnahmen: Strände wirken unwirtlich, Menschen hocken, wo immer möglich, mit dem Rücken zueinander. Die Discokugel dreht sich nicht mehr, stumpfer Tand schaut von bedecktem Himmel wie ein verlorenes Requisit.
Der Autor James Meek hat vor ein paar Jahren in seinem bemerkenswerten Buch Private Island über Privatisierung mit und nach Margaret Thatcher festgestellt, dass sie in Großbritannien zu „einer neuen vorindustriellen Befreiung [führt], in der der Staat sich selbst aus allen Aufgaben außer Verteidigung, dem Polizei-Gericht-Gefängnis-System, Währungsaufsicht, Müllentsorgung, dem Armenhaus und der Instandhaltung von Straßen zurückzieht; alle Sozialstaatszahlungen sind eingestellt und alle universalen Infrastrukturen – medizinische Betreuung, Bildung, Gas, Strom, Wasser, Züge und Busse, das Internet – sind nur noch zu Marktpreisen erhältlich, in anderen Worten, sie sind de-universalisiert. Arme Briten haben abermals die Freiheit, zu verhungern, an behandelbaren Krankheiten zu sterben, des Lesens und Schreibens unkundig zu bleiben und sich ein Dienstbotenleben in den Armenhäusern zu erkämpfen.“
Isabelle Graeffs Bilder sind assoziativer, durchstreifen Land und Gebüsch, schauen unromantisch auf Bewuchs. Plastikbunte Staubfeudel über einer leeren Garderobe erzählen einer schon rissigen Aktentasche, deren Träger noch nie in seinen Anzug passte: Die Party, auf der wir uns das noch mal schöntrinken konnten, ist vorbei.
Info
Exit Isabelle Graeff Hatje Cantz 2018, 136 S., 89 Abb., 45 €
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