Mit der Schau Modernism. Designing a New World im Victoria & Albert Museum entdeckte Großbritannien vor zehn Jahren den Modernismus neu. Man ergötzte sich an der Formensprache und sah sich wohl in dem bestätigt, was New Labour und Immobilienfonds bewirkt hatten: ein kosmetisches Mäntelchen, ein architektonischer Geschmacksverstärker für die Interessen von Banken, Investmentfonds und Reichen. Der Journalist Owen Hatherley erkennt früh die Bedeutung jener Ausstellung. Zwar ist Walter Gropius keineswegs der Vater der Londoner Skyline und Alvar Aalto kaum mit Ikea verknüpft, wie Hatherley in seinem Buch Militant Modernism polemisiert, den chattering classes aber wurde eine hervorragende Gelegenheit geboten, einem wichtigen Teil britischer Baugeschichte den Rücken zuzuwenden: dem Brutalismus.
Zehn Jahre später hat der Brutalismus weiter einen schweren Stand; da sind die einschneidende Formensprache einer körperhaften Architektur und das rohe Material, das als lebens- oder menschenfeindlich missverstanden wird. Allerdings sind viele dem Brutalismus zugeordnete Bauten Resultat öffentlicher Aufträge: Schulen, Bibliotheken, Sozialwohnungen.
Heygate Estate
Und während der Brutalismus oft als Form angegriffen wird, soll doch ebenso oft über eine gruselige Ästhetik ein Staatsbegriff getroffen werden. Einer, der für das bürgerliche Auge einen weitreichenden Schrecken symbolisiert; Engels ideeller Gesamtkapitalist, einmal von der anderen Seite gesehen. Wer wollte, konnte sich schon während der V&A-Show einen besonders dramatischen Fall ansehen: Das corbusiersche Heygate Estate von 1974 in der Southwark war von Zeitungen und Politikern beinahe systematisch schlecht beleumundet worden. Der Gemeinderat ließ das Gebäude verkommen und verkaufte schließlich eine Ruine an den privaten Investor Lend Lease. Anstelle von 3.000 Wohnungen, 1.200 aus dem Sozialbau, entsteht seit dem Abriss ein Investorenparadies. Eine Einzimmerwohnung wird für 310.000 Pfund angeboten. Die Gewinne für Lend Lease werden auf etwas unter 200 Millionen Pfund geschätzt. Die aus dem Verkauf für die öffentliche Hand liegen bei 0 Pfund. Im neuen Gebäude sind für die Lobby unterschiedliche Aufgänge geplant, einige sind einzig für die Bewohner der Sozialwohnungen reserviert.
In dem Maße also, in dem Regierungen den Sozialstaat unter Steuersenkungsolympiaden zu zerhäckseln anfingen, gerieten viele der in béton brut gegossenen Monolithen in Misskredit. In der Londoner Schau blieb Brutalismus als Spielart des Modernismus ausgeklammert – wie überhaupt britische Architekten und Designer mit Ausnahme der in Paris beheimateten Eileen Gray nicht vorkamen.
Andererseits gibt es zum Brutalismus spätestens seit Frédéric Chaubins enorm erfolgreichem Cosmic Communist Constructions Photographed viele Regalmeter belangloser Bildbände. Vor allem zum sozialistischen Modernismus scheint alles abgegrast, was sich zwischen Kriegsdenkmälern (Jan Kempenaers, Spomenik), Bushaltestellen (Christopher Herwig, Soviet Bus Stops) oder und immer wieder gerne Ruinen (etwa Rebecca Lichtfield, Soviet Ghosts) finden lässt. Mit der seltenen Ausnahme von Monografien über einzelne Architekten bestätigt der Überblick die ungute Ahnung: Während die Gegner des Brutalismus über die Form die sozialstaatliche Idee attackierten, ergötzten sich viele Freunde am Grusel der Ästhetik und neutralisierten die Ethik mittels tumblr-gerechten Architekturpornos.
Daran wollen seit Herbst das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt und die Wüstenrot Stiftung etwas ändern. Mit Internetseite, Hashtag und allem Drumherum: #sosbrutalism heißt das. Angefangen als Bestandssammlung, mit Bildern, Chronik und Hintergrundinformationen, gehört eine Portion Porno auch hier dazu. Allerdings will das DAM darüber hinausgehen. Kurator Oliver Elser begann nach der Sprengung des AfE-Turms auf dem Bockenheimer Campus 2014, „erst einmal ähnliche Gebäude zu suchen“.
Nun soll die Seite „eine Art Metaplattform für die Kampagnen rund um die Welt sein“. Ein Farbschema zeigt an, ob Bauten entscheidend umgebaut und verfremdet werden; Links sollen Unterschriften und Aktionen vernetzen; Notizen vermerken, ob eine Sichtbetonwand entgegen der Ursprungsidee angestrichen ist wie an der St.-Christopherus-Kirche in Ingolstadt. Oder ob Gebäude vor dem Abriss stehen wie eines der juristischen Fakultät in Sydney oder der Mäusebunker der Freien Universität Berlin. Inzwischen sind über 800 Gebäude registriert. Richtig weit gehen die Notizen dazu noch nicht.
Es läuft viel über Schwarmintelligenz, und das kann dann dazu führen, dass jemand die wirklich schmucke Geisel Library in San Diego einerseits Western Europe zuordnet, andererseits den Architektennamen falsch schreibt. Als Vorbereitung für eine Ausstellung im DAM in diesem Jahr hofft Elser aber, dass Lücken gefüllt würden und das Wegsehen schwer werde. Ein Schritt, um sich dem Brutalismus „als Teil der Baugeschichte zu stellen“. Vom untergegangenen Heygate Estate gibt es allerdings auch bei #sosbrutalism noch keine Spur.
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