Verdächtig zärtlich

Fotografie Antanas Sutkus galt lange als regimefreundlicher Sowjet-Fotograf. Das Genie seines Blicks wollten nur wenige erkennen
Ausgabe 40/2019

Lenins Ideen sind unsterblich.“ Der Sinnspruch auf Holz lehnt schräg gegen die Wand und über den Bildrand hinaus, dahinter ein Bücherkabinett, Frauenbeine stehen in eleganten Schuhen davor, die Dame scheint keine Notiz von der Erinnerung zu nehmen. Vielleicht wird umdekoriert, vielleicht der Frühjahrsputz 1965, vielleicht ein Buchladen, ein offizielles Büro. Jedenfalls ein fragiler Moment: Lenins Ideen sind ganz profan abgehängt, seine Unsterblichkeit ist gerade irgendwie im Weg. Das Bild hat Antanas Sutkus in Vilnius aufgenommen, um es dann lange in seinem gewaltigen, überquellenden Archiv zu vergraben. Solche Aufnahmen einem Publikum vorzuführen, kam nicht in Frage.

Heute geht das. Nur müssen die Fotografien mit anderen Schwierigkeiten ringen: Die Bilder von Antanas Sutkus, sicher der bekannteste litauische Fotograf und einer der wichtigsten Fotokünstler des ehemaligen Ostblocks, beziehen sich zum allergrößten Teil auf einen untergegangenen Kontext. Zu Sowjet-Zeiten hatten sie es schwer, nachher wollten viele auch nicht genauer hinschauen: Nostalgiewille, oder fehlendes Gespür für die subtile Zeichensprache, verklebte den Blick.

Jetzt ist die Mahnung, Lenin nicht zu vergessen, mit der großartigen Schau Kosmos nach Mannheim gekommen, wo die Reiss-Engelhorn-Museen ihre Fotografie-Abteilung gerade wegen Umbauten ins Museum Zeughaus ausgelagert haben. Die Ausstellung hat Thomas Schirmböck mit zwei Kollegen kuratiert und bereits im Nationalen Kunstmuseum in Vilnius gezeigt – als Blick in die Vergangenheit und Lehrstück zu künstlerischer Arbeit in der UdSSR. Und sie arbeitet, wenn man Schirmböck glauben will, exakt am Gespür für subtile Zeichen – und man will ihm unbedingt glauben. Jedenfalls kamen über 30.000 Besucher in Vilnius ins Museum. Das Land hat kaum drei Millionen Einwohner.

Ambivalenz war verdächtig

Die Bilderwelten hatten Voraussetzungen, Grenzen, Gegenspieler: Mitte der 1950er Jahre begann Antanas Sutkus, der gerade 80 Jahre alt geworden ist, ernsthaft zu fotografieren. Die politische Vorgabe hieß damals „sozialistischer Realismus“. Unter Stalin waren die Kulturinstitutionen zentralisiert, Kunst sollte von „narodnost“, Volksverbundenheit, erzählen. Aber das bedeutete, resümiert Fotohistoriker Sergeij Morozov, „Demonstration der Errungenschaft, Übereinstimmung mit Parteiführern, Freundschaft der Völker, Liebe zum Führer“. Auch in der Sowjetrepublik Litauen sollten Fotografen das Lied von Aufbruch und Euphorie singen, eben von der „Vorwärtsbewegung zum Kommunismus“.

Antanas Sutkus gründete 1969 mit acht anderen Fotografen die Gesellschaft für Fotokunst der Sowjetrepublik Litauen und saß ihr vor. Der Zusammenschluss bedeutete einen dieser fragilen Räume, ein Zwischenreich, in denen sie Kompromisse machten, um manchmal sanft von der Linie abweichen zu können. Angenehmer Nebeneffekt: Kunstfotografie wurde anerkannte Arbeit, es gab Aufträge, das Prinzip funktionierte wie eine Agentur, sie organisierten Ausstellungen. Die Idee wurde sogar Modell für die UdSSR und Sutkus Funktionär. Da hatte er schon seine heute bekanntesten Aufnahmen gemacht, de Beauvoir und Sartre im weißen Sand der Kurischen Nehrung, Wolken, existenzielle Leere um die gebeugten, dunkel gewandeten Gestalten.

Oder die blinden Pioniere, warmherzige Porträts, aber was für eine Metapher! Überhaupt immer wieder spielende Kinder, fröhlich, versunken in eigenen, oft anarchisch anmutenden Welten. Erwachsene dagegen auch mit abgearbeiteten Gesichtern, ein erschöpfter, noch auf der Dampfwalze eingeschlafener Arbeiter, ärmliche Holzhäuschen, rissiger Putz. Der Pilot, der Sutkus für Luftaufnahmen über das Land flog: Hinter ihm im Flughafenbus sitzt der Aufpasser mit in Stein gemeißelter Miene unter der Uniformmütze. Er selbst, das Hemd lässig aufgeknöpft, hat die Arme wie zur Verhaftung unter den Bügel vom Vordersitz gestreckt – als Sutkus die Fotografie zeigen konnte, erkannten viele Litauer noch die Arithmetik aus Überwachung, Restriktion und Machtlosigkeit als Konzentrat in einer beiläufigen Aufnahme.

Manche Bilder konnte er in der DDR drucken lassen, der „kleine Pionier“ gewann mit düsterer Mine und geschorenem Schädel den Michelangelo-D’Oro-Preis in Italien, Sowjetskoje Foto druckte ihn nach. Die meisten Aufnahmen wanderten gleich ins Archiv, das System hatte einen eindeutigen Anspruch an Fotografie, oft auch an Kunst. Ambivalenz war verdächtig.

Also nun, Antanas Sutkus, war das Widerstand? Er wendet das Wort länger im Mund, erzählt von seinem Vater, der Kameraden verraten sollte, sich aber lieber erschoss. Freunde hatten ihn vorher noch überredet, Frau und Sohn zu verschonen, Antanas war da gerade ein Jahr alt. Die Großeltern übernahmen die christliche Erziehung. Widerstand: Im Dorf teilten sie ihr karges Essen in der Nacht mit den „Waldbrüdern“, Partisanen, die gegen die Sowjetunion kämpften. Ein aussichtsloses Unternehmen: „Widerstand war Selbstmord“, sagt Sutkus.

Thomas Schirmböck arbeitet seit drei Jahren an den Werkgruppen des Künstlers, hat ihn immer wieder als „Ausnahmefotografen“ und „mit Sicherheit einen der zehn ganz großen Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ genannt. Erzählt begeistert von Breite und Tiefe des Werkkorpus, von der schieren Menge der Aufnahmen, eine halbe Million, die ästhetisch und inhaltlich oft herausragend seien. Schirmböck zählt auf, steigert sich noch in seiner Begeisterung: „Sutkus kann so verdammt viel. Er ist ein ausgezeichneter Porträtfotograf. Ein ausgezeichneter Fotograf von Kleingruppen oder von Situationen. Das sind jedes Mal vollkommen andere Herangehensweisen und Techniken. Er macht Übersichtsaufnahmen, die wirklich bestechend sind. Mit unglaublichem Gefühl für die grafische Gliederung seiner Bilder.“

Dabei erzählen die Aufnahmen oft Geschichten auf mehreren Ebenen: von der Eigenständigkeit der Kunst, die Journalismus, der Propaganda war, ablehnte. Sie behaupten oft einen poetischen, vielleicht romantischen Blick, durchmessen Schwermut, karge Welten, finden oft Absurdes, kleine Leichtigkeiten. Ist so ein Blick an die Biografie gebunden?

Im Katalog zur Ausstellung (planet lithunia, Steidl Verlag 2018, 38€) erwähnt Schirmböck Sutkus’ ärmliche Kindheit auf dem Dorf, die schwere Arbeit als Torfstecher, seine offene Tuberkulose, all das habe Wirkung auf seine Fotografie gehabt: „Er bewahrte sich Menschlichkeit auch in den dunkelsten Momenten seines Lebens und paarte sie mit existenzieller Fürsorge für seine Umwelt.“

Tschüss, Parteigenossen!

Sutkus selbst schaut nüchtern zurück: „Das Dorf war nicht romantisch. Wir lebten in Baracken, Laken teilten Räume ab, in einem wurde getrunken, im nächsten geliebt, gestritten, gestorben. In der Ecke lag ich.“ Lieber will er über die gleiche Augenhöhe sprechen, mit der er seinen Protagonisten begegnet: „Aber natürlich, ich bin ein großer Romantiker.“

Eine andere Aufnahme, wieder Beine, diesmal von Vladimir Illjitsch Uljanow selbst, litauisch Leninas, sie stehen noch auf dem Sockel, leicht zum Schritt gespreizt, der Torso, wohl mit dem Schweißgerät abgetrennt, hält sich einen Moment hinter ihnen in der Luft, die Mantelschöße werden vom Wind geworfen, die schwere Figur hängt an einem Kran, auf der Glatze Taubendreck. Mit der rechten Hand weist er nicht mehr die Richtung zum Kommunismus, sie scheint zum Abschied nur noch zu winken. Lakonischer Titel: Goodbye, Party Comrades!

Auch hier ist die Komposition bestechend. Aber Sutkus schaut auf den Prozess, mit dem sich der Zugang zu seinem Werk veränderte: Die Sowjetunion machte Platz für rabiaten Kapitalismus und eine Erinnerungspolitik, die bis heute „Diktatur“ und „Besatzung“ schreit. Seine Aufnahmen wurden entwertet und der Kollaboration verdächtigt, gerade weil sie zärtlich sein konnten, romantische Momente fanden, elegante Schuhe, die sich zum Tanz bereithielten. Oder weil sie die Modernisierung des Landes in den Blick rückten, Plattenbauten, Verkehr, Werbung. Jüngere Kunsthistoriker neutralisieren ihn noch immer als Funktionär und Sowjet-Fotografen, schütteln den Kopf über Humanismus in der Sowjetunion. Die Ausstellung in Mannheim zeigt, dass wir fast 30 Jahre nach Lenins letztem Gruß dringend lernen müssen, uns den Kosmos von Antanas Sutkus neu zu erarbeiten.

Info

Kosmos Zephyr im Museum Zeughaus, Mannheim, bis 26. Januar 2020

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