Landtagswahl Im Wahlkampf probieren FDP und Grüne es mit Distanz zueinander. Welche Lehren haben sie aus dem Dauerknatsch der Ampel-Koalition im Bund gezogen?
Christian Lindner hat zwar „eine große Affinität zu Wäldern und Natur“, aber nicht zu den Grünen
Foto: Sina Schuldt/dpa
Es gibt diesen Moment in Oldenburg, Sprühregen setzt ein und Christian Lindner schaut in den Himmel. Er ist eben angekommen, hat sich hingesetzt, legt den Kopf in den Nacken. Der Moment streckt sich, ringsum spannen sie Schirme auf; Lindner, grauer Anzug, blaues Hemd, wendet sein Gesicht Wolken und Landregen zu, der von jetzt an Schlossplatz und Stadt im Griff haben wird.
Am Vortag hat er dem Hannoveraner Redaktionsnetzwerk Deutschland verraten, dass er früher Bauer werden wollte, „ich habe eine große Affinität zu Wäldern und Natur“. Jetzt sitzt er da, Oldenburg, Landtagswahlkampf, Kopf im Nacken, auf eine kuriose Art ist sein Gesicht etwas heller als die notdürftig beschützten und beschatteten Menschen um ihn herum, sowieso als die finster dre
inster dreinschauen Personenschützer. Etwas Weiches umfließt seine Züge, fast meint man, er träume. Ringsum klappern Verschlüsse der Fotografen.Die Landtagswahl am 9. Oktober in Niedersachsen ist die erste, bei dem sich die Bundesregierung nicht mehr hinter dem Schildchen „neu“ verstecken kann. So etwas wie die Meinung zur Problemlösungskompetenz der Regierung. Der Bundesfinanzminister und FDP-Chef macht auf dem Schlossplatz seinen ersten von immerhin acht Wahlkampfterminen.Nassgesichtige HeiterkeitNach dem Spitzenkandidaten Stefan Birkner federt Lindner auf die Bühne, redet frei, irgendwie in alle Richtungen, was man sollte, was sie so gemacht haben, dass die FDP immer wichtig gewesen sei. Er wird kehliger, lärmende Menschen mit grauen Haaren stehen hinter einer Reihe Polizeigitter, grölen von Frieden, einer pustet in eine immer erschöpfter klingende Vuvuzuela. „In Moskau wäre euer Protest nicht erlaubt“, ruft Linder ihnen zu. Dann kommt er zu den Atommeilern, die sollten bis 2024 weiterlaufen, man könne halt jetzt keine Kapazitäten ungenutzt lassen, Wink an die Grünen, sich nicht nur auf Kohlekraft zu stützen. Gerade sechs Prozent der Stromproduktion in Deutschland kommt aus Nuklearreaktoren, das fällt hier unter den Tisch. Es gehe um Mut und Mittelstand. Für beide habe die FDP die kalte Progression abgeschafft. Dann geht es wieder gegen die Grünen, den Klimawandel solle man nicht nur monieren, sondern Dinge dagegen auch montieren. Nassgesichtige Heiterkeit, Hände klatschen ineinander, wenn sie nicht mit Schirmhalten beschäftigt sind. Kalauer gegen die Grünen: läuft.Lindner versucht, in einem Wahlkampf anzugreifen, der so aussieht: Die SPD landesvatert sich gemütlich voran, die mitregierende CDU müht sich nach Kräften, so zu tun, als säße sie in der Opposition. Linke hauen sich untereinander auf die Mappe, klingen politisch wie die Vuvuzuela. Die Grünen sind stark und wollen unbedingt in die Regierung, kommt die FDP ins Parlament, braucht es vielleicht beide.Harte Zeit für Liberalismus, oder? Stefan Birkner lacht, streckt sich auf dem Caféstuhl, 1973 geboren, in Garbsen aufgewachsen, Jurist, Ex-Umweltminister, Landesvorsitzender, Fraktionschef. Vielleicht hätte er seinen Parteivorsitzenden darauf einstellen sollen, dass nicht die Grünen das Problem der FDP in Niedersachsen sind. Mit denen hätten sie in fünf Oppositionsjahren, „auch persönlich eine gute Basis“ gefunden. Birkner hat seine Partei dazu gebracht, eine moderate Tierwohlabgabe zu fordern – mit einigem Ruckeln übernahm die Bundestagsfraktion den Beschluss. Aber ja, raueres Wasser für die FDP hat er immer wieder erlebt.Die Frage zielte auf die Politik der Exekutive in der Pandemie: Nicht mehr die Freiheit des Einzelnen, sondern der Schutz eines Kollektivs stand im Zentrum – auch wenn Wolfgang Kubicki davon nichts hören wollte. Birkner lächelt die Spitze weg, sie hätten dafür gesorgt, dass die Landesregierung im Parlament über Corona-Verordnungen diskutiere, sich der Kontrolle stellte. „Das mussten wir erkämpfen, gemeinsam mit den Grünen, da hat sich der Wert des Liberalismus gezeigt.“ Fällt ihm die Bundesregierung auf die Füße, in der die FDP Dinge verhindert, für Bessergestellte kämpft? Birkner hält die Ampel für ein Mittelinks-Bündnis mit der FDP und für „keine einfache Konstellation“.Aber wohin will denn der Liberalismus in all dem? Ganz sympathisch, dabei zuzuhören, wie Stefan Birkner antwortet und nachdenkt. Wir sind Politiker, sagt er, wir müssen konkrete Maßnahmen für konkrete Probleme entwickeln. „Im Moment ist nicht die Zeit für Theorie-Debatten in der politischen Kultur.“Am nächsten Morgen, Hintergrundgespräch mit einer Altvorderen von den Sozialliberalen, allgemein eine karge Existenz in der FDP, in Niedersachsen aber noch nicht ganz verschwunden. Ganz konkrete Dinge, sagt sie, machten der Partei das Leben schwer: Kubicki, die protzige Sylt-Hochzeit des Parteivorsitzenden, seine Entscheidung, nicht Wirtschaftsminister zu werden. Die Sozialliberalen in der FDP umflort oft etwas zwischen Resignation und Durchhaltetrotz. Das Gespräch kehrt zum Lieblingsthema zurück: Eigenverantwortung. Exakt um diese Uhrzeit rennen Menschen in Scharen aufs Münchner Oktoberfestgelände. Masken tragen sie nicht, aber stumpfe Gier im Gesicht.Heftige Polit-GrätscheRegen am Nachmittag und Julia Stock ist kalt. Sie steht vor dem Wahlkampfstand der Grünen in der Hannoveraner Fußgängerzone. Julia Stock, 1978 geboren, Industriedesignerin, runde Brille aus dem 3D-Drucker, Wahlkreiskandidatin, erlebt an Ständen häufiger „allgemeines Meckern“, die Euphorie des vergangenen Jahres sei weg, dennoch kämen viele mit Lob für die grüne Regierungspolitik vorbei. Die Krisen verlangten ihnen eine heftige Grätsche ab, zwischen Überzeugungen und LNG-Terminals oder Besuchen in Katar. Gasumlage mit der Sicherung von Unternehmensgewinnen? Stock lacht. Kann man besser machen.Vor allem der FDP fehle der Pragmatismus, derzeit dauere es 20 Monate, bis ein Antrag für den Bau von Windrädern bearbeitet sei, Abbau in der Bürokratie helfe da nicht, der Personalmangel sei so schon gewaltig. Bei der Verkehrspolitik im Bund wird ihr richtig warm: Tankrabatt, kein Tempolimit, die Liberalen seien ein großes Problem. „Wenn ich mir das anschaue, glaube ich nicht, dass die Klimakrise bei denen angekommen ist.“ Eine Zusammenarbeit mit der FDP? Am liebsten gar nicht.Am Abend erzählt Julia Hamburg, Jahrgang 1986, Fraktionsvorsitzende, Spitzenkandidatin, dass sich die Zahl der Mitglieder seit der letzten Landtagswahl auf rund 12.500 verdoppelt haben. In den vergangenen zwölf Monaten traten fast eineinhalb Tausend Mitglieder ein. Professionelle Überzeichnung, wenn sie vom Wahlkampf sich vor allem an Menschen erinnert, die ihr zustecken würden, erst mit Annalena Baerbock und Robert Habeck im Bund die Grünen auch in Niedersachsen wählen zu können: Seit Mai haben die Grünen fast zehn Prozent in den Umfragen verloren, liegen jetzt bei 15,5 Prozent. Ein paar Fragen später bewertet sie den Wahlkampf als kompliziert, die Idee, „perspektivisch mit SPD und CDU auf Augenhöhe zu kommen“, ist etwas weggerückt. Auf dem Land könne man ohne Auto nicht leben, dort werden sie mit ihren Angeboten und Ideen schwerer gehört.Kurzer Ausflug zum Nackensteak, in Niedersachsen gibt es den Schweinegürtel, Ausbeutung, Tierleid, fantastische Gewinnmargen, bei den Grünen beschweren sich immer noch Menschen, dass sie für steigende Fleischpreise verantwortlich seien. Also müssen sie an Ständen viel Politik erklären, Mindestlöhne nämlich, Schulden für Solarzellen auf dem Dach, Effizienzmaßnahmen beim Energieverbrauch. „Dann steigt schon die Akzeptanz für unsere Politik. Verzichtsdebatten führen da eher nicht hin.“Aber ja, die Energiepolitik der Regierung trifft in Niedersachsen einen Nerv, AKW-Gegnerschaft ist weit über das Wendland eine zusammenbindende Erzählung der Partei. Gerade langjährige Mitglieder seien oft verzweifelt. Mit denen müssten sie sehr viel reden. „Selbst, wenn wir in der Opposition mehrfach mit der FDP zusammengearbeitet haben, sehen wir beim Blick auf die Ampel, warum es gut ist, wenn es in Niedersachsen für eine Regierung aus zwei Parteien reicht.“Dafür geht es jetzt hinaus, Lister Platz, Fußgängerzone, es ist längst dunkel. Julia Hamburg hat einen gelben Dufflecoat angezogen, ein Kamerateam nimmt sie in Empfang, die Journalistin sagt, dass sie „authentische Begegnungen und Gespräche“ drehen will. Damit die auch richtig authentisch sind, könne es sein, dass sie die auch mal nachdrehen. Im Kameralicht schimmert Hamburg wie ein warmer Tupfer in einer fast entsättigten Welt.Das erste Gespräch wird dann ein authentischer Knaller, die ältere Dame, hochgestecktes weißes Haar, verstaut Einkäufe auf dem Rad, reagiert auf das schimmernde Gelb, Kameragewusel und die Ich-bin-Ihre-Direktkandidatin-Ansprache mit einem fast fröhlichen Blick. Ach, und Sie kommen extra aus Hamburg? Ja, willkommen in Niedersachsen. Julia Hamburg grinst und beginnt noch einmal von vorn.
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