Liebe Uni...

Kritik eines Erstis Wie die Studiengangüberfüllung in Physik für eine unmögliche Situation sorgt und was dagegen getan werden könnte

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Donnerstag, 16. 10. 2014, Institut für Physik, HU Berlin.
Voller Vorfreude bin ich aufgestanden, lange war ich morgens um Sieben nicht so motiviert –
kein Wunder, schließlich soll ich heute meine erste Physikvorlesung besuchen. Angespannt bin ich auch, denn ob man dieses Studium bis zum Schluss fortführt ist äußerst ungewiss; an der HU liegt die Abbrecherquote bei 50-60%1. Dieser Wert ist von der Uni provoziert, die Kapazitäten den ~160 Erstis ein vollwertiges Studium zu bieten sind nicht vorhanden. Der große Hörsaal des Instituts für Physik, in welchem ich mich nun ebenfalls befinde, bietet 120 Studierenden einen Sitzplatz mit Tisch, ich gehöre zu den weniger glücklichen und sitze auf dem Boden hinter der letzten Reihe. Ich sehe fast nichts und 90 Minuten stehen, folgen und mitschreiben ist mir nicht möglich. Meine anfängliche Motivation hat sich verflüchtigt, die schlechte Luft leider nicht, im Gegenteil...

Nach 45 Minuten erwische ich mich das erste Mal dann bei dem Gedanken: Hoffentlich wird es sich bald leeren.
Einige sprechen diesen auch aus, dann natürlich mit dem Zusatz, dass man es dennoch niemandem wünsche, abbrechen zu müssen.
So schleicht sich ein Konkurrenzdenken ein, man weiß: es sind nicht genug Praktikumsplätze für alle da, dieses Denken impliziert Stress und, in manchen Fällen, Zukunftsangst. Eher gute Vorraussetzungen für eine selbsterfüllende Prophezeihung als eine angenehme Arbeitsathmosphäre.

Schlimmer noch ist die Situation nur in der „Lineare Algebra“-Vorlesung, da irgendein Planungsgenie es scheinbar für sinnvoll hielt, statt eine eigene Vorlesung für Physiker zu schaffen, diese einfach in den schon vorhandenen Kurs für Informatiker zu schicken. Über 300 Menschen in einem Saal des Erwin-Schrödinger-Zentrums, 30-40 finden auch hier nur Platz auf den Treppen.
Wer sich daran nun bereits gewöhnt hat, auf den kommt ein neuer Schock zu, der Professor sagt, die Physiker kümmerten sich um nichts, er hielte einfach seine gewöhnliche Vorlesung, ausgerichtet am Werk „Lineare Algebra für Informatiker“. Außerdem gibt es nur 240 Plätze in den Übungen, es wird darauf gesetzt, dass einige schon in der zweiten Woche daheim bleiben.
Einige, das sind dann halt mal eben 70 Erstis.
Wer auch immer sich das ausgedacht hat:
Chapeau.


Wie kann eine mögliche Lösung aussehen? Eine Lösung, bei der das Abbrechen nicht als Bedingung für das erfolgreiche Studium anderer gesetzt wird?
Eine Lösung kann nur durch mehr Personal oder andere Zugangsvoraussetzungen erfolgen. Letzterer Ansatz ist vor allem in Physik schwer durchsetzbar, nicht selten haben Menschen mit hervorragenden Leistungen in den Naturwissenschaften einen sonst eher schlechten Schnitt, selbst ein Fächer-NC kann unerwünschte Folgen haben; viele gute Noten dürfen nicht Lehrerimmanent betrachtet werden...

Die einzig wirklich sinnvolle Option ist ein Auswahlverfahren, wie es in Fächern wie Musik, Kunst und an einigen Privatunis2 verwendet wird.
Da dies jedoch mit hohem Zeit- und Geldaufwand verbunden ist wird sich ein Präsidium eher schwerlich davon überzeugen lassen.
Höhere Investitionen in die Bildung könnten das Problem lösen –
aber hey, beschwert euch lieber über den Fachkräftemangel.

Lieben Gruß,
ein noch-Physikstudent.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leonard Lentz

2014-15: Studierender der Physik, HUB Seit 2015: Studierender der Musikwissenschaften und Physik, HUB

Leonard Lentz

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