Sehnsuchtsort Revolution

G20 Kommentar: Zum Straßenkampf in der Schanze – Kann die Protestkultur noch Alternativen bieten?

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Ich gebe zu: ich bin kein Revolutionär. Ich habe noch nie eine Demonstration organisiert, ich respektiere Angela Merkel als Politikerin und schlafe lieber in einem Bett, als in einem Zelt. Ob ich will oder nicht, gehöre ich zur Mittelschicht, auch wenn mein Einkommen nach Abschluss meines Studiums lange erstmal dreistellig war – dafür hatte ich meine Eltern. Ich komme aus dem Hamburger Westen, dem “guten” Teil der Stadt. Zukunftsangst hieß für mich, nicht zu wissen, was ich studieren soll. Mit sechszehn haben wir in der Sternschanze abgehangen, haben uns auf den Stufen der Roten Flora mit einer flasche Sekt betrunken und später peinliche Fotos auf vollgesprayten Toiletten gemacht. Der linke Charakter des Viertels hat uns gefallen, ohne dass wir nur die leisteste Ahnung davon hatten, was er eigentlich bedeutet.

Heute sind die Bars um die Flora und das Schulterblatt gefüllt mit schicken Studenten und jungen Unternehmern, die an 10-Euro-Gin-Tonics nippen. Das ärgert mich, tief drinnen weiß ich aber, dass mein Auftreten damals vielleicht auch den ein oder anderen vorbeilaufenden Linksautonomen geärgert hat – unser albernes Gekicher, das sorgloses Gehabe. Denn die Rote Flora soll nicht einfach nur “cool” aussehen, das Viertel wurde aus einer Botschaft heraus geboren. Doch die Kritik am System hat die Schanze frisiert, ungewollt attraktiv gemacht. Schon Tage vor dem G20-Gipfel wurde mal wieder das Schaufenster eines Modegeschäfts am Schulterblatt eingeworfen, der Laden heißt “Kauf dich Glücklich”. Der Hass auf die Gentrifizierung und den Kapitalismus könnte nicht treffender inszeniert werden.

Ich kann verstehen, dass der Ausnahmezustand G20 eine willkommende Chance ist, die Schanze in jenen Sehnsuchtsort zu verwandeln, den die Plakate an der Roten Flora seit Jahren ausrufen. Was bringt ein alternatives Viertel sonst, wenn es gar keine Alternative mehr ist? Was nützt es, wenn die Protestkultur nicht mehr auf der Straße, sondern nur noch an den Hauswänden gepflegt wird? Der Schanze steht es zu, die Passivität zu verlassen. Doch was wir die letzten beiden Nächte erlebt haben, ist nicht einfach nur das Gegenstück zu Passivität. Oder: Es ist eben nur das Gegenstück. Wer über Jahre hinweg in seinem Zimmer einen gesellschaftlichen Wandel herbeisehnt, hat absolut nichts bewegt. Die Alternative dazu? Chaos auf der Straße! So denken viele, das haben wir nun gesehen. Die Banalität dabei ist erschreckend: Zu was für einer Gesellschaft sind wir verkommen, dass Protest immer nur A oder B ist? Was sagt es über uns aus, dass der einzig “wahre” Aufstand so aussehen muss?

Ich schreibe das aus meinem Zimmer heraus, denn ich bin ja kein Revolutionär. Es steht mir nicht zu, die Protestkultur in der Schanze zu verurteilen – ich kenne den Schmerz der Ungerechtigkeit nicht, ich weiß nicht wie es sich anfühlt, ein Verlierer des Systems zu sein. Mich bettet das System in Komfort, ab und zu trinke ich einen Gin Tonic für 10 Euro. Ich bin Bildungsbürger, Wohlstandsbürger, Kapitalist und Konsument. Aber auch ich habe eine politisch differenzierte Meinung entwickelt, seither schäme ich mich manchmal für meine Hamburger Vergangenheit. Jetzt wohne ich in Berlin und bin zufrieden, wenn am Ende des Monats mein Geld noch für ein 90-Cent-Sterni reicht. Der absurde Kontrast zwischen Einstellung und Lebensstil, zwischen kritischem Weltbild und Gin Tonic, wenn man so will, stürzt mich nicht selten in harsche Selbstzweifel. Umso genauer beobachte ich seit einiger Zeit die Möglichkeiten für politischen Aktionismus. Seit kurzem arbeite ich für eine linke Zeitung, bei der viele das Weltbild der Aufständischen von gestern Nacht teilen. Zwischenfazit: Ich glaube, es geht auch anders.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leonie Haenchen

leonie.haenchen@gmail.com

Leonie Haenchen

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