Es gibt ihn noch, den guten Lärm

Musik Die Stuttgarter Band Die Nerven hat die Genese des vierten Albums überlebt und wütet gegen den Identitätswahn
Ausgabe 17/2018

In Anbetracht des allgemeinen Zustands der Welt, der Verhältnisse und ihrer Entwicklungstendenzen, gibt es im Grunde zwei mögliche Haltungen: Resignation oder Aggression. Welche davon man einnimmt, hängt nicht selten vom Zustand des Nervenkostüms ab. Insofern ist der Name der Stuttgarter Band Die Nerven kein sehr subtiler Hinweis auf ihre Musik. Dass die Band bekannt gab, sich während des aufreibenden Entstehungsprozesses des Albums Fake mehrmals nahezu aufgelöst zu haben, erstaunt auch nicht weiter. Glücklicherweise kam es dazu nicht, und das vierte Album des einst als schrammelnde Lo-Fi-Band gestarteten Post-Punk-Trios aus Julian Knoth (Gesang, Bass), Kevin Kuhn (Schlagzeug) und Max Rieger (Gesang, Gitarre) konnte erscheinen.

Der Name des Albums passt ja auch zu gut in ebenjene eingangs erwähnten „Verhältnisse“, sind doch Fake News, Authentizitäts- und Identitätswahn zum antizivilisatorischen Grundrauschen geworden. „Finde niemals zu dir selbst“ ist dabei eine Losung, die nicht nur an Tocotronics „im Zweifel für den Zweifel“ erinnert (und die Verschiebung von der Hamburger Melancholie zur schwäbischen Aggressivität ist sicherlich kein Zufall), sondern fast schon so etwas wie Subversion enthält.

Natürlich darf in diesem Kontext auch nicht der Hieb gegen „skandinavisches Design“ fehlen, das nicht nur in Stuttgart deutschen Spießbürgern als Individualitätssurrogat das Reihenhaus aufhübscht. Der „von Amazon empfohlene“ „Style“ rundet das ab. Reaktion also: irgendwo zwischen Resignation („Das Spiel ist aus, doch die Automaten suchen weiter ihre seltsame Melodie“) oder eben Wut („Lass alles los, gib alles frei, nichts bleibt“).

Das historische Manko des Punk, dem Rhythmus den Vorzug über die Melodie zu geben, ist im Post-Punk längst korrigiert worden, zuweilen allerdings zugunsten einer allzu rabiaten Unterbutterung der eigentlichen Prämisse: laut zu sein. Den Nerven gelingt eine erstaunlich gute – man will fast sagen: Aussöhnung dieser beiden Prinzipien.

In die Dissonanzfalle

Da sind einerseits der treibende, nicht lockerlassende Rhythmus, das wütende Brüllen, die schweren Black-Sabbath-artigen Riffs und andererseits melodischer Gesang und die auf psychedelisch getrimmte E-Gitarre, die immer dann, wenn es droht, eingängig zu werden, in die Falle der Dissonanz lockt.

Hochwertige, handgemachte Rockmusik gibt es also tatsächlich noch, das mag ein Anachronismus sein in der Welt der weichgespülten Gitarrenklampfer und allzu simplen Elektro-Jingles. Vom Überlegenheitsgefühl einiger Rock-Fetischisten sind sie allerdings weit entfernt. Wenn es heißt, „weil doch früher alles besser war, geordnet und gewissenhaft, denk’ ich nicht nach und doch so viel“, zeigen sie, wie es auch ohne Prätention geht. Die Rotzigkeit, mit der Die Nerven ihre Musik machen, ohne lächerlich zu wirken, sucht ihresgleichen.

Leider nutzt sich aber selbst das ab. Gewiss, jedes einzelne Lied auf dem Album lohnt sich. Doch im Ganzen verschwimmt vieles zu einem Klangteppich. Dann stechen nur noch einzelne Zeilen hervor, besonders gelungene Riffs, das eine oder andere Intro. Will man prinzipiell zwei Arten Musik unterscheiden – Hintergrundmusik und Zuhörmusik –, so machen Die Nerven irgendwie beides.

Info

Fake Die Nerven (Glitterhouse / Indigo)

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Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

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