Im Museum in Yad Vashem hat man sich darauf verlegt, weniger mit unvorstellbaren Zahlen zu arbeiten, und mehr mit Einzelschicksalen. Dazu gehört auch die Geschichte des Schiffes St. Louis. Philipp Ther erzählt sie nicht zufällig in seinem neuen Buch über Flucht und Migration im Europa der Moderne. Er berichtet von der Familie Dublon aus Erfurt. Ihr war es gelungen, Tickets für das Schiff zu ergattern, doch zu spät: Die Ergebnisse der Konferenz von Évian-les-Bains im Juli 1938 hatten jüdischen Flüchtlingen das Leben ernstlich erschwert. Die Menschen, die an Bord waren, hatten allerdings Visa. Mehr als eine Woche kreuzte das Schiff vergeblich vor Kuba und Florida, von den 937 Menschen an Bord konnten nur 29 in Kuba an Land gehen. Das Schiff kehrte
rte nach Europa zurück. Wer nach England kam, überlebte, wer nach Belgien, Frankreich oder in die Niederlande ging, hatte kaum eine Chance. Die Familie Dublon wurde von den Deutschen komplett ausgelöscht.Parteilichkeit der StaatenDiese Geschichte offenbart zweierlei: nicht nur, wie fatal Abweisung sein kann, sondern auch, wie wichtig internationale Kooperation ist. In Évian erklärte der Delegierte Australiens: „Man wird zweifellos verstehen, dass wir, die wir kein wirkliches Rassenproblem haben, auch nicht wünschen, ein solches bei uns einzuführen.“ Heute mag es die Furcht vor „Parallelgesellschaften“ und „Gefährdern“ sein, die Abwehrhaltung ist ähnlich – und meist ebenso rassistisch gefärbt. Zeit also, grundsätzlich über Einwanderung nachzudenken.Das wagt der britische Philosoph David Miller in seinem Buch, dessen Titel schon wie eine Provokation klingt: Fremde in unserer Mitte. Welche Fremden? Und welche Mitte? Damit ist die Stimmlage gesetzt. Es geht ihm darum, zu begründen, warum liberaldemokratische Staaten ein Recht haben müssen, ihre Einwanderung zu begrenzen, Einwanderer auszuwählen und Integrationsforderungen zu stellen. All dies, ohne eine kosmopolitische Position aufzugeben. Sein Unterfangen ist eine philosophische Gratwanderung. Er verteidigt die landsmännische Parteilichkeit der Staaten – also ihr Recht und ihre Pflicht, vor allem für Wohl und Wehe der eigenen Bürger zu sorgen – und formuliert externe menschenrechtliche Mindestverpflichtungen.Ein Abschied vom Universalismus? Mag sein, aber welcher Staat ist schon universalistisch? Dem stärksten Argument gegen seine Haltung nimmt er ohnehin schon zu Beginn den Wind aus den Segeln: Ja, eigentlich sollten alle Menschen in Wohlstand, Sicherheit und Freiheit leben, sodass niemand ihnen sagen kann, wo sie wie zu leben haben. Allerdings gäbe es in einer solchen vernünftig eingerichteten Welt auch keine Flucht und Massenmigration.Wenn man so will, versucht der ehemalige Popper-Schüler, den Liberalismus gegen seine eigene Widersprüchlichkeit zu verteidigen. Also: Staaten dürfen Einwanderung begrenzen, doch Menschenrechte müssen geachtet bleiben. Er differenziert dabei Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten, wobei seine Fassung des Fluchtbegriffs so weit ist (schließlich ist auch extreme Armut eine existenzielle Bedrohung), dass nur wenige Wirtschaftsmigranten übrig bleiben. Die Staaten haben eine Verantwortung, sich um die Flüchtenden zu kümmern – aber nicht unbedingt bei sich zu Hause. Letztendlich läuft es auch auf umfangreiche internationale Kooperation hinaus.Dass es auch anders geht, als derzeit zu beobachten, wird bei der Lektüre des Historikers Ther deutlich. In seiner detaillierten Beschreibung der Fluchtphänomene seit 1492, die er sinnvoll topologisch und nicht chronologisch ordnet, zeigen sich zwei „goldene Zeitalter“ für Flüchtende: die Zeit nach 1848 und der Kalte Krieg. In diesen Phasen, in denen einige Staaten darauf bedacht waren, fortschrittlicher zu sein als die, aus denen die Menschen flohen, entstand das Bild des Exilanten und politischen Flüchtlings, das zwar mit schillernden Namen wie Hannah Arendt und Madeleine Albright in Verbindung gebracht wird, jedoch auch für eine anhaltende Wahrnehmungsstörung sorgt: Dezidiert politisch verfolgt ist in einem repressiven Regime nicht jeder, der flieht; erst recht nicht in einem Bürgerkrieg. Sollte ihnen deswegen die Aufnahme verwehrt bleiben?Doch die Zeiten ändern sich. Während das revolutionäre Frankreich sich bewusst vom Ancien Régime absetzen wollte, ist vom Geist der terre d’asile nichts mehr übrig. Und die Flüchtlinge des Prager Frühlings wurden in Österreich noch mit offenen Armen empfangen. Was Aufnahmepraxis und Integration betrifft, bestätigen die Erkenntnisse Thers unterdessen eine der Forderungen Millers: Die Auswahl anhand wirtschaftlicher Kriterien zieht sich von der Aufnahme der Hugenotten im 17. Jahrhundert, die zahllose Arbeitskräfte in das rückständige Agrarland Preußen spülte, bis zu den heutigen Quotenregelungen. Eine Einwanderungspolitik braucht nur eine Welt, in der es Ungerechtigkeit und somit Grenzen gibt. Aber die braucht eine.Südsudan interessiert nichtDass diese Politik ungerecht ist, liegt im Wesen der Sache. Ein Staat ist kein Weltbeglückungsapparat, aber eine Einrichtung, die mehr oder minder vernünftig gestaltet werden kann. Was Integration angeht, gibt es ein Fazit: schnelle Perspektiven auf Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft, Zugang zum Arbeitsmarkt, Investitionen in Integration und Bildung erleichtern es Ankömmlingen, zu bleiben. Zwei weitere Faktoren: Zeit und Solidarität. Die junge Bundesrepublik nahm über zwölf Millionen Menschen auf. Innerhalb von zwei Generationen war davon kaum noch etwas zu sehen. Auch die Hugenotten, die immerhin eine andere Sprache sprachen, hatten sich binnen weniger Generationen integriert. Aber: Generationen, nicht Legislaturperioden sind das Maß. Solidarität wiederum braucht ein Vehikel. Sie kann religiös (Hugenotten), national (Vertriebene) oder politisch (Prager Frühling) motiviert sein. Bleibt die Frage: Was muss geschehen, damit Fliehende aus Syrien, Somalia oder dem Südsudan endlich in den Genuss dieser Solidarität kommen?Placeholder infobox-1Placeholder link-1
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