Sabine Schneller über „Theater des Volkes“ in Berlin: „Ein früher Fall von Arisierung“
Interview Sabine Schneller hat für „Dein Tänzer ist der Tod“ zum ehemaligen „Theater des Volkes“ recherchiert. Das Haus, das 1919 von Max Reinhardt gegründet wurde, ist Vorgänger des Berliner Friedrichstadt-Palasts und hat eine bewegte Geschichte
Die Stalaktiten-Decke des Großen Schauspielshauses (hier 1920) zerstörten die Nazis 1938
Foto: Zander & Labisch/Ullstein/dpa
Bis heute ist der Friedrichstadt-Palast ein Fixpunkt im Showgeschäft der Hauptstadt. Seine Wurzeln liegen im 1919 vom jüdischen Regisseur und Unternehmer Max Reinhardt gegründeten Großen Schauspielhaus. Das riesige Gebäude im expressionistischen Stil des Architektenpaares Hans Poelzig und Marlene Moeschke-Poelzig war eins der wichtigsten Revue-Theater der Weimarer Zeit. Was nach Reinhardts Flucht vor den Nazis mit dem Theater geschah, hat die Historikerin Sabine Schneller im Auftrag des Friedrichstadt-Palasts untersucht.
der Freitag: Frau Schneller, Ihr Buch „Dein Tänzer ist der Tod“ entstand anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Friedrichstadt-Palasts 2019. Wie kam es, sich ausgerechnet dem düsteren Kapitel der NS-Zeit zu wi
#252;steren Kapitel der NS-Zeit zu widmen?Sabine Schneller: Mit dem Jubiläumsjahr hat der Palast klargemacht, dass er aus der Gründung von Max Reinhardt von 1919 hervorgeht. Das heißt, das Haus hat jüdische Wurzeln. Dabei stellte man fest: Man weiß einiges über die frühen 1920er-Jahre unter Reinhardt und über das Entstehen der Revuen unter Erik Charell. Und man weiß, nach 1945 wurde der Palast von der DDR sozusagen adoptiert und in ihrem Sinne ausgeformt. Aber was war dazwischen, von 1933 bis 1945?Der heutige Friedrichstadt-Palast steht knapp 200 Meter entfernt von der Stelle, an der sich das ehemalige Große Schauspielhaus befand, das die Nazis dann in „Theater des Volkes“ umbenannten. Worinbesteht da die Kontinuität?Im Unterhaltungsbetrieb. Den gäbe es nicht ohne die Gründung durch Max Reinhardt, der 1919 aus einem ehemaligen Zirkus ein Theater machte und der 1924 merkte, es muss ein Unterhaltungstheater werden, sonst läuft das nicht. Niemand sonst wäre auf die Idee gekommen, auch die DDR nicht, so ein Riesentheater aus dem Boden zu stampfen.Die Nazis legten zu Beginn großen Wert auf scheinbare Legalität, so auch bei der Aneignung des Großen Schauspielhauses. War das paradigmatisch?Jein. Jeder Fall ist natürlich speziell. Paradigmatisch ist die brutale Schließung am 2. April 1933. Da hat man Schlägertrupps vom Kampfbund für deutsche Kultur geschickt, die verunmöglichten, dass in den Häusern, die man nicht haben wollte, Theater gemacht wurde. Das ist vielerorts in Deutschland geschehen. Das Besondere beim Großen Schauspielhaus ist jedoch der sehr frühe Fall von Arisierung. Max Reinhardt war bereits ins Ausland geflohen. Schließen konnte man das Haus, das war kein Problem, die Wiedereröffnung war deutlich schwieriger. Aber diese riesige Unterhaltungsbühne mit 3.200 Sitzplätzen in der Mitte der Hauptstadt geschlossen zu lassen, wäre ein Prestigeverlust für die Nazis gewesen.Da kam ihnen die Verschuldung des Reinhardt-Konzerns zugute.Genau, Reinhardt hatte sich, wie alle Privattheater in der Weltwirtschaftskrise, hoch verschulden müssen, und zwar bei der Arbeiterbank des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Durch die Zerschlagung der Gewerkschaften und den Raub des Gewerkschaftsvermögens am 2. Mai 1933 wurde die Deutsche Arbeitsfront (DAF) Hauptgläubigerin des Konzerns. Mit trickreichen Winkelzügen im Aktienrecht gelang es, alles in den Besitz der DAF zu bringen.Trotzdem ging es nicht sofort los.Ja, das hat einige Monate gedauert. Das Problem waren die Revierkämpfe: Goebbels, Göring und Robert Ley von der DAF hatten ihre Claims in der Kulturpolitik noch nicht so weit abgesteckt, dass sie bereit waren, zusammenzuarbeiten. Im November 1933 waren die Verhältnisse zumindest zwischen Ley und Goebbels in wesentlichen Punkten geklärt. Ab da ging es ganz schnell. Im Januar 1934 konnte das Haus schon wieder eröffnen.Das nun entstandene „Theater des Volkes“ wurde vom Propagandaministerium und der „Kraft durch Freude“-Organisation der DAF betrieben. Wie sah die Zusammenarbeit aus?Es gab am Anfang zwei verschiedene Konzepte für das Haus. Die KdF wollte es als eines der Flaggschiffe ihres Kulturprogramms vermarkten. Man wollte der KdF-Klientel etwas bieten, also auch Industriearbeitern, die vorher noch nie ein Theater besucht hatten. Und das ging am einfachsten mit leichter Unterhaltung, die durch die Schließung der jüdischen Privattheater verloren gegangen war und stark nachgefragt wurde. Goebbels wollte sich als dominierender Magnat der Theaterkultur etablieren. In dieser Zeit konkurrierte er noch stark mit Göring, der die Preußischen Staatstheater unter sich hatte. Also sah Goebbels seine Chance, mit einem Klassiker-Theater für die große Masse zu punkten. Kurioserweise wiederholte er damit den Fehler, den Reinhardt 1919 gemacht hatte, denn auf Dauer funktionierte das nicht.Wie ging man mit der Architektur um? Das Gebäude war ja riesig, Akustik und Optik nicht leicht handzuhaben.Das Problem war, dass die Nazis sich auf die Guckkastenbühne zurückzogen. Ursprünglich war das Haus als Arena-Theater geplant. Es gab vorgelagert zwei Bühnen, die die alte Fläche der Zirkusmanege einnahmen und die hochmodern ausgerüstet waren, mit mehreren beweglichen Podesten. Das wollten die Nazis nicht mehr. Damit bekamen sie aber auch Probleme, weil das Haus akustisch auf diese Arena ausgerichtet war.Dazu kam der expressionistisch gestaltete Innenraum, der wie eine Art Tropfsteinhöhle aussah.Ja, das galt den Nationalsozialisten als „entartet“. Sie haben aber relativ wenig Polemik betrieben, weil sie genau wussten, es wird einfach zu teuer, sämtliche verfemte Architektur zu ersetzen. Der Umbau 1938 war Teil einer größer angelegten Aktion. Mehrere Theater in Berlin, die ästhetisch nicht den Ansprüchen der Nazis entsprachen oder von jüdischen Architekten stammten, wurden neoklassizistisch umgebaut. Dabei wurde im „Theater des Volkes“ die Stalaktiten-Decke zerstört und eine „Führerloge“ installiert.Nach der Experimentierphase zeigte das Haus vornehmlich Operetten. Das heißt, die KdF-Fraktion hat die Auseinandersetzung gewonnen, oder?Ja, weil ihre Klientel das so wollte. Der Nationalsozialismus hatte immer auch diese populistische Seite. Die Nazis haben sich durchaus auch nach der Stimmung in der Bevölkerung gerichtet – und die stimmte mit den Füßen ab.Aber was gab es denn da zu sehen? Viele Operetten stammten ja aus den Federn jüdischer Autoren und Komponisten.Die Operette galt vor 1933 als das jüdische Genre schlechthin. Aber jüdische Komponisten durften nicht mehr gespielt werden, da konnte man grundsätzlich keine Ausnahmen machen, weil der Komponist einer Operette sehr bekannt ist. Bei den nicht so bekannten Librettisten war es leichter. Man hat sie verschwiegen, wenn sie jüdisch waren, und ab 1940 systematisch angefangen, neue Libretti zu schreiben. Aber es gab schlicht zu wenige „arische“ Operetten, um über so viele Jahre ein Programm zu machen, an dem die Leute auch Spaß hatten.Wie hat es dann funktioniert?Man kann zwei Phasen erkennen. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat es nur leidlich funktioniert. Sie haben jahrelang keinen Intendanten gefunden, der in der Lage war, dieses Haus zum Erfolg zu führen. Es war auch wirklich nicht einfach, auf so großer Bühne eine Operettenrevue zu inszenieren, die mitreißt. Das verwöhnte Publikum in Berlin kannte ja die tollen Arbeiten aus den 1920er-Jahren von Erik Charell. Erst 1938 fanden sie wieder einen künstlerischen Leiter, Rudolf Zindler. Einst Kommunist, war er gleich 1933 in die NSDAP eingetreten. Er hatte ein sehr gutes Gespür für die Bevölkerungsstimmung und beherrschte die Unterhaltung auf der großen Bühne. Mit „Bombenstimmung“ bekam er im Krieg das Haus dann wieder voll, bis das Theater im Juni 1944 geschlossen wurde.Wer arbeitete denn in so einem Haus, wenn ein Großteil der Kulturwelt vertrieben war?Ich gehe davon aus, dass alle Beamten in der Theaterabteilung des Propagandaministeriums überzeugte Nazis waren. Im Theater baute man zumindest auf der Verwaltungsebene auf Leute, die als politisch zuverlässig galten. Bei den Künstlern sah das schon anders aus. Man musste hier flexibler sein, wenn man überhaupt etwas auf die Beine stellen wollte, es gab schlicht zu wenige Talente. Also durften auch manche „jüdisch Versippte“ oder Dissidenten arbeiten, solange sie sich im Sinne des Regimes „benommen“ haben.Und was war für diese Menschen die Motivation, da mitzumachen?Verschiedenes. Angst, vor allem vor dem Kriegseinsatz, arbeiten wollen, Geld verdienen, Familie schützen und so weiter. Aber es gab natürlich auch viele, für die das eine unglaubliche Karrierechance war, denn die Nationalsozialisten steckten viel Geld in die Kultur und viele Plätze waren freigeräumt. Die ganzen jüdischen Künstler waren ja raus. Da haben viele Karriere gemacht und daran nach 1945 auch angeknüpft.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1