María Cecilia Barbetta trägt eine Lederjacke und Stiefel. Die argentinische Schriftstellerin hat das Café Molinari in Berlin-Kreuzberg als Treffpunkt vorgeschlagen, eine ehemalige Eckkneipe, die mit alten Schultischen möbliert ist. Das passt: Barbettas Mutter war Lehrerin, wie sie selbst eine war. Das gerollte R verrät ihre Herkunft.
der Freitag: María Cecilia Barbetta, wollen wir das Gespräch auf Deutsch oder Spanisch führen?
María Cecilia Barbetta: Auf Deutsch selbstverständlich! Sie werden sich wundern, ich spreche hier sehr wenig Spanisch. Ich kultiviere das Argentinische nicht so. Allerdings trinke ich jeden Tag Mate-Tee – auf die traditionelle Art.
Sie sind in Ballester aufgewachsen, einem eher unspektakulären Ort am Rand von Buenos Aires, ähnlich dem „conurbano“, dem dicht besiedelten, urbanen Gebiet um die Stadt herum. Wie war Ihre Kindheit?
Ich habe viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Meine Eltern haben hart gearbeitet, mein Vater ging morgens früh aus dem Haus, fuhr mit dem Zug in die Innenstadt und kam erst abends nach Hause zurück. Es gibt ein Wort auf Deutsch, das ich sehr liebe. Es lautet: Feierabend. Das Wort gibt es auf Spanisch nicht.
Was hat Ihr Vater gemacht?
Er war Buchhalter. Und meine Mutter war Lehrerin. Sie hat morgens und nachmittags unterrichtet, so dass ich die Nachmittage in der Autowerkstatt bei meinem Großvater verbracht habe, oder bei meiner Oma im Haus. Sie stand meist in der Küche und hat italienisch oder libanesisch gekocht. Sie haben einen Innenhof gehabt, voller Blumentöpfe, voller Pflanzen. Dort gab es auch eine Schaukel. Mein Opa hatte sie für mich gebaut, ich sehe mich auf dieser Schaukel. Und ich sehe vor allem die wunderschönen Fliesen im Innenhof meiner Großeltern. Ich habe ein Bild, das immer erscheint, wenn ich meinen Computer nicht benutze ...
Einen Bildschirmschoner?
Genau, einen Bildschirmschoner! Da kommt dieses Bild von den roten Fliesen und den Pflanzen.
Was haben Sie als Kind von Deutschland mitbekommen?
In Ballester, dem Stadtviertel, in dem wir wohnten und mein jetziges Buch spielt, waren etliche Deutsche ansässig. Wir haben manchmal deutsche Lebensmittel eingekauft. Zum Beispiel Leberwurst. „Levabusch“, sagte ich. Eine Mischung aus Leber und Busch, Wilhelm Busch ...
Ich fand es merkwürdig, als ich auf einer meiner Reisen so viele Argentinier getroffen habe, die Leberwurst kannten …
Weil es uns schmeckt! In Ballester sind zwei deutsche Schulen, so dass ich einen deutschen Kindergarten und eine deutsche Schule besucht habe. In der deutschen Schule hat meine Mutter ihr Leben lang unterrichtet: Wirtschaft auf Spanisch. Aber einige Fächer wie Mathe und Musik wurden bei uns direkt auf Deutsch unterrichtet. Ich war immer gut. Ich wollte auch Lehrerin werden, aber den Schülern lieber eine Fremdsprache beibringen. Vor allem war ich in die deutsche Grammatik verliebt, weil sie mir Sicherheit gab.
Sie schreiben heute auf Deutsch.
Weil ich diese Sprache über alles liebe. So sehr, dass ich sie studiert habe. Ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden. Ich habe mir immer Mühe gegeben, die Vollkommenheit im Umgang mit der Fremdsprache zu erreichen.
Wie kann man Besonderheiten des argentinischen Spanisch ins Deutsche übertragen? Wörter wie „boludo“ zum Beispiel. Depp.
Das kann man nicht und ich versuche es auch nicht. Ich denke deutsch. Manchmal finde ich schade, dass ich nie in der Lage sein werde, deutsche Dialekte zu schreiben oder zu sprechen. Ich finde deutsche Dialekte wundervoll.
Ihr Roman „Nachtleuchten“ spielt am Vorabend der letzten Militärdiktatur Argentiniens. Es wird aus der Sicht der kleinen Leute erzählt.
Ich wollte das beschreiben, was ich sehr gut kenne, die einfache Welt von Leuten, die trotz Bedrohung ihre Ideale und Hoffnungen nicht aufgeben. Es ist die Nachbarschaft, der Kiez, der schwule Friseur und seine Mutter, der anarchistische Bäcker, der Zeitungsverkäufer, die Automechaniker ... Ballester ist ein völlig unspektakuläres Viertel. Meine Mutter hat eine katholische Mädchenschule besucht, eben das Instituto Santa Ana. Das nahe gelegene Armutsviertel in José León Suárez kenne ich auch gut, denn meine Mutter engagiert sich dort in der Hausaufgabenhilfe. Der fortschrittliche Priester lebt dort mit den Menschen, mit denen er Schulter an Schulter arbeitet. Ich habe mir das alles angeguckt. Das beschreibe ich genauso in Nachtleuchten. Bei der Messe macht der Mate die Runde, die Kinder schreien. Bei allen Problemen ist es ein Fest ...
Laute Kinder werden hier bei Messen eher ermahnt …
Nicht in José León Suárez. Dort jagen sich Hunde durch die Bankreihen. Das ist sehr lebendig, sehr einfach, sehr schön. Es ist eine Schönheit, die gepaart ist mit ein bisschen Traurigkeit.
Sie gingen weg. Warum?
Als ich meine vierjährige Lehrerausbildung in Buenos Aires abgeschlossen hatte, stellte ich fest: Das ist irre, dass ich noch nie in Deutschland war. Ich bekam bald ein Stipendium vom Goethe-Institut und durfte vier Monate nach München. Als ich ein bisschen rumgereist bin, verbrachte ich zwei Tage in Berlin und wusste: Dahin will ich zurück. Die Zeit in Bayern war herrlich, und die Menschen waren unglaublich freundlich, aber München war mir immer zu schön, ohne Patina. Ich bin aus meiner Heimat anderes gewohnt.
Und dann?
Ich kam mit einem DAAD-Stipendium nach Berlin, um an der FU zu promovieren. Damals hatte ich keine Ahnung, was das bedeutet. Ich wusste nur: Meine Welt in Argentinien war irgendwie in eine Sackgasse geraten. Obwohl ich sehr jung war, hatte ich bereits eine Stelle als Lehrerin in der Schule, in der ich selber Schülerin gewesen war. Mein Gott, dachte ich, was mache ich in zehn Jahren? Mein Literaturdozent an der Hochschule war zugleich Direktor des DAAD in Buenos Aires. Er riet mir, in Berlin zu promovieren. Ich hatte auf Deutsch eine Abschlussarbeit über Julio Cortázar verfasst, den ich sehr verehre.
Den großen argentinischen Schriftsteller …
Ja, diese Arbeit wurde an der FU als Magisterarbeit anerkannt. Mit dieser Arbeit im Gepäck durfte ich nach Deutschland. Die Promotion dauerte viereinhalb Jahre. Ich habe die Zeit an der FU sehr genossen, es war eine freie Welt. Das fand ich faszinierend. Ich habe vieles nicht verstanden, auch wenn ich die Sprache beherrschte.
Von Madonnen, Sherlock Holmes und Diktatur
In ihrem ersten Roman Änderungsschneiderei Los Milagros (S. Fischer 2008, 336 S.)erzählt María Cecilia Barbetta die Geschichte einer jungen Braut und einer Schneiderin in Buenos Aires. Sie experimentierte mit Typografien und collageartigen Techniken. Schon damals wurde ihr sprachliches Können gelobt. Barbetta gewann damit unter anderem den Aspekte-Literaturpreis. Ihr zweiter Roman, Nachtleuchten (S. Fischer 2018, 528 S.), stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018. Für einen Teil des Manuskripts erhielt sie den Alfred-Döblin-Preis.
Barbetta beschreibt darin die Atmosphäre kurz vor dem Umbruch: Das Buch spielt in Argentinien im Jahr 1974/75. Der gestürzte Präsident Juan Perón hat wieder die Macht übernommen. Das beeinflusst das Leben und Verhalten der Menschen im Einwandererviertel Ballester. In drei Abschnitten erzählt sie von Befreiungstheologie, dem Konflikt zwischen Links- und Rechtsperonisten, dem zunehmenden Terror, vor allem aber über das unspektakuläre Leben der einfachen Leute. Ihre Sprache ist verspielt, der Roman voller Magie, Andeutungen und Bildern. Sei es die Madonnenfigur, die von Haus zu Haus wandert, die Arbeiter der Autowerkstatt, in deren Kosmos die große Politik übers Radio einbricht, oder der Junge, der sich als Sherlock Holmes sieht und das ominöse Verschwinden einiger Katzen untersucht.
María Cecilia Barbetta war u. a. Stipendiatin der Villa Massimo und der Villa Aurora. Die 46-Jährige lebt seit 1996 in Berlin
Was meinen Sie?
Ich habe nicht verstanden, wieso die Studenten und Studentinnen so unglaublich selbstbewusst sind. Und wieso sie, wenn jemand anders seine Arbeit vorstellt, ihn hart kritisieren. Wieso sie einem Kommilitonen, während der Professor zuhört, erklären, was an der Arbeit alles schlecht ist und was er alles anders hätte machen sollen. Das hätte ich mir wiederum nie erlaubt. Das hat auch mit meiner Sozialisation während der Militärdiktatur zu tun. Diese Freiheit spürte ich in Deutschland sofort. Es gab Frauencafés mit lila Stühlen, Schwulencafés, meine Freundinnen diskutierten über feministische Theorien und tauschten sich über Pornografie aus. Da wollte ich nicht mehr zurück.
Viele junge Wissenschaftler leben prekär. Wie konnten Sie sich über Wasser halten?
Ich habe die Lage unterschätzt. Es ist eine ganze Weile gut gegangen: Ich hatte zwei Anstellungen, habe ein Volontariat beim ehemaligen Museumspädagogischen Dienst absolviert und parallel dazu an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) Spanisch und Literatur auf Spanisch unterrichtet. Denn ich war immer auf der Suche nach dem richtigen Stempel, um hierbleiben zu dürfen.
Nach einer Aufenthaltserlaubnis?
Ja, ich musste alle sechs Monate bei der Ausländerbehörde vorsprechen. Aber mein Fall blieb immer eine Ermessensfrage. Obwohl ich meinen Unterhalt finanzieren konnte, war das eine Ermessensfrage. Der Beamte konnte jederzeit Ja oder Nein sagen. Und die Beamten in Frankfurt waren nicht immer freundlich. Nach ein paar Jahren war das Volontariat zu Ende, ich verlor meinen Lehrauftrag an der Uni und war plötzlich arbeitslos. Also musste ich mich wieder neu erfinden. Ich habe mich damals um alles Mögliche beworben und stellte fest, keiner lädt mich so schnell zu einem Vorstellungsgespräch ein. In jener Zeit radelte ich durch Berlin-Wilmersdorf und entdeckte diese Änderungsschneiderei, die in meinem ersten Roman vorkommt. Vor dem Laden stand ein Schild mit einem kleinen Rechtschreibfehler. Es hieß: „Änderung von Damen“, und darunter: „Kinder- und Herrenbekleidung“. Auf der ersten Zeile fehlte der Bindestrich! Und ich, die ich mein Leben lang gegen die Fehler im Umgang mit der deutschen Sprache angekämpft habe, setzte mich hin und fing an, eine Geschichte zu schreiben.
Aufgrund dieses einen Fehlers?
Ja, weil ich an die Macht der Worte glaube. Der Fehler verwandelte diese Änderungsschneiderei in einen fantastischen Ort, in einen Ort, an dem Damen verändert werden können. Die Geschichte wurde länger und länger und am Ende ein Roman.
Sie bekamen ein Stipendium vom Berliner Senat.
Das hat das Schreiben zu Anfang möglich gemacht. Eine Bekannte sagte mir, ohne Erfahrung, ohne Erstling, ohne Namen brauche ich mich gar nicht zu bewerben. Aber ich hatte sowieso nichts zu verlieren, und das war meine Stärke.
Haben Sie mittlerweile auch eine Aufenthaltserlaubnis?
Ich habe sogar die doppelte Staatsangehörigkeit. Ich hätte auch auf die argentinische verzichtet, wenn es das Abkommen nicht gegeben hätte. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, mit dem argentinischen Pass in Gefahr zu sein – immer abhängig von Beamten in einer Ausländerbehörde, die alles andere als ausländerfreundlich war.
Kehren Sie häufig nach Buenos Aires zurück?
Ich war gerade meine Eltern besuchen, blieb aber nur zwei Wochen. Denn das Erscheinen von Nachtleuchten stand kurz bevor. Ich fliege alle zwei Jahre hin, obwohl ich es gern öfter täte ... Meine Eltern werden älter. In meinem Roman heißt es: Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen.
Wie war das für Ihre Eltern, dass Sie in Deutschland blieben?
Ich glaube, die haben nie geahnt, dass ich als Tochter mit argentinischer Erziehung diesen Schritt gehe.
Kommen sie manchmal zu Besuch?
Für sie ist es eine größere Hürde, weil sie kein Deutsch können. Aber als ich vor kurzem meine Buchpremiere beim Internationalen Literaturfestival in Berlin hatte, war meine Mutter da und brachte zwei ihrer Freundinnen mit: meine ehemalige Englisch- und meine Geschichtslehrerin. Drei Exemplare aus Ballester saßen in der ersten Reihe, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt! Die drei haben nichts verstanden, aber sie sahen mich auf der Bühne und waren glücklich. Das war ein kleiner stimmiger Moment.
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