An einem Frühlingsabend in Berlin stellt Fernanda Melchor ihr Buch vor. In der Fahimi Bar in Kreuzberg hat sich eine spanischsprachige Community versammelt. Am nächsten Morgen treffen wir uns zum Gespräch in einem Café in der Nähe des Checkpoint Charlie.
der Freitag: Frau Melchor, Ihr Roman „Saison der Wirbelstürme“ spielt in einem kleinen mexikanischen Dorf, im Milieu der ruralen Arbeiterklasse. Woher kennen Sie diese Welt?
Fernanda Melchor: Ich bin in Veracruz geboren und aufgewachsen, einem Bundesstaat an der Küste des Golfs von Mexiko. Die Schauplätze im Buch erinnern an diese Gegend. Ich gehöre zu einer Mittelschicht in Mexiko, die aufgrund mangelnder Kaufkraft im Niedergang begriffen ist. Zwar hatte ich das Glück, eine Universität besuchen zu können. Aber die Welt des Buches habe ich um mich herum gesehen.
Es ist die Geschichte um den Mord an einer „Hexe“, wie die Leute sie nennen.
Ja, manchmal denke ich, dass mir diese Geschichte geschenkt wurde. Eines Tages las ich in der Zeitung von diesem Fall. Da stand: „Eine Person, die sich mit Hexerei beschäftigt, wurde tot aufgefunden. Sie ist berühmt in diesem kleinen Dorf inmitten der Zuckerrohrfelder. Es ist bereits bekannt, dass der Mörder ein Liebhaber dieser Person ist, der die Hexe getötet hat, weil diese Hexerei betrieben hat, damit er zu ihr zurückkommt.“ Ich fand es überraschend, dass die Polizei und die Journalisten diese Geschichte akzeptierten, als sei das total normal. Das blieb hängen, wie ein Ball, der im Kopf hin und her hüpft.
Daraus wurde dann der Roman?
Am Anfang dachte ich, ich fahre zu diesem Ort, forsche nach, rede mit allen und schreibe eine Chronik. Aber es war sehr gefährlich, denn diese kleinen Städte um Veracruz herum waren damals voller Narcos. Es gab einen Krieg zwischen zwei Drogenkartellen. Da einfach aufzutauchen und Fragen zu stellen, war zu riskant. Ich war sehr enttäuscht. Erst später kam ich darauf, einen Roman zu schreiben.
Gibt es solche Hexen wirklich?
Ja, und ich wollte, dass sie dieses proto-feministische Symbol der starken, unabhängigen Frau wird, die als Sündenbock für all die Macho-Ängste der Gesellschaft dient. Ich wollte auch, dass sie ein Geheimnis ist. Wenn man darauf achtet, merkt man, dass sie in meinem Roman kaum beschrieben wird und fast nie spricht.
Kannten Sie die feministischen Diskurse rund um die Hexen?
Ein wenig. Ich wollte aber nicht nur von einer Gesellschaft, die eine Hexenjagd ist, sprechen, sondern auch mexikanische Elemente integrieren. Jenen Synkretismus, mit dem wir die christliche Religion mit den indigenen und afrikanischen Religionen vermengen. Von Hexen oder Heilerinnen zu sprechen, ist für viele Menschen in Veracruz total normal.
Ich musste beim Lesen aufgrund drastischer Gewaltdarstellungen mehrmals unterbrechen. Da wird in manchen Szenen Kindesmissbrauch aus der Sicht des Opfers positiv geschildert.
Es war in vielerlei Hinsicht ein sehr schwieriges Buch. Erstens, weil es mir schwerfiel, den richtigen Ansatz zu finden, um diese Geschichte zu erzählen. Es ist mein zweiter Roman, also hatte ich die naive Idee, dass er einfacher sein würde als der erste, weil ich bereits wusste, wie man es macht. Zweitens war es, selbst als ich wusste, was ich wie sagen wollte, emotional aufwendig für mich. Es war ein Buch, das ich schreiben musste, aber die ganze Geschichte ist sehr bedrückend. Ich war die ganze Zeit erschöpft. Als ich fertig war, war ich jedoch sehr glücklich. Ich fühlte, dass ich etwas erreicht hatte.
In welcher gesellschaftlichen Zeit haben Sie das Buch angefangen?
Ich begann es zu schreiben, da schien die Gewalt endlos. Das war 2015. Nun, es sieht immer noch nicht so aus, als hätte sie jemals ein Ende. Aber es war ein sehr verzweifelter Moment für mich, es wurden so viele Fälle von Feminiziden bekannt.
Frauentötungen.
Ja, und zu schreiben war mein Versuch, das zu verstehen. Damals beschäftigte ich mich auch viel mit Feminismus. Lange hatte ich ihn abgelehnt, weil ich dachte, der Feminismus sei eine Art Club für Frauen, die Männer hassen. Das war die Erziehung, die ich hatte, und es hat mich viel Arbeit gekostet, zu verstehen, dass es darum geht, eine bessere Welt für alle aufzubauen. Ich verstand, dass ich einen Roman schreiben wollte, in dem der Tod von Frauen und die Misshandlung von Frauen im Zentrum stehen.
War es naheliegend, in so einem Umfeld zur Schriftstellerin zu werden?
Fiktion hat mich schon immer interessiert, von einem sehr jungen Alter an. Bücher waren für mich als Kind eine Form der Ausflucht. Es gab nicht viele Möglichkeiten für mich, die Welt kennenzulernen, als ich klein war. Meine Eltern arbeiteten und ich und mein Bruder verbrachten viel Zeit allein zu Hause. Und es war meine Art, mehr Wissen anzuhäufen.
Was haben Sie gelesen?
Als ich noch sehr jung war, las ich viele Enzyklopädien. Das hat mich fasziniert. Mein Vater war kein großer Leser, er las die Zeitung, aber keine Literatur. Doch jedes Mal, wenn ein Enzyklopädien-Verkäufer vorbeikam – sie existierten damals noch in Mexiko –, kaufte er ein paar Bände, aber dann nicht den Rest. Also war das Haus voller angefangener Enzyklopädien. Mich faszinierte das. Schon in sehr jungen Jahren verstand ich, dass die Wahrheit in den Büchern stand.
Warum?
Meine Mutter hat kein Studium. Sie begann früh zu arbeiten und bekam uns Kinder sehr jung. Ich verstand sehr schnell, dass sie keine Antworten auf all meine Fragen hatte. Dann lernte ich, dass diese in den Büchern standen – und für mich war es eine wunderbare Welt. Ich mochte Romane und meine Absicht war immer: Ich will Schriftstellerin werden, seit meiner Kindheit. Ich wusste natürlich nicht, ob ich es schaffen würde, und für eine lange Zeit, zwischen 20 und 30, bezweifelte ich es.
Woran lag das?
Weil das Schreiben eines Romans eine sehr spezifische Technik ist und viel Disziplin erfordert. Man kann Talent haben, aber vielleicht ist man nicht so diszipliniert. Außerdem lebte ich in Veracruz und sah, dass sich das ganze Kulturleben in Mexiko-Stadt abspielte. Da konnte und wollte ich nicht hin. Als ich klein war, ließen mich meine Eltern nicht, und später hatte ich ein Leben in Veracruz, ich hatte einen Partner, einen Job.
Wie ging es dann weiter?
Ich arbeitete eine Zeit lang in der Öffentlichkeitsarbeit für die Universität, an der ich meinen Abschluss gemacht hatte. Aber mir gefiel die Arbeit nicht, sie war sehr monoton. Aber das Genre der Chronik habe ich seit meinem Journalismus-Studium gemocht. Also sagte ich mir: Ich kann keine erfundenen Geschichten schreiben, aber ich kann Geschichten schreiben, die schon da sind. Sie zu recherchieren ist einfacher. Ich muss nichts erfinden. Ich muss nichts von mir selbst geben.
Ihre Chroniken handeln von den Alltagsdingen in Veracruz.
Ja, die Gewalt explodierte damals mit aller Kraft. Im Jahr 2008 hatten wir Schießereien auf der Straße, Autos, die durch Granaten explodierten. Da wollte ich die Erfahrungen der gewöhnlichen Menschen erzählen. Derer, die weder Narcos noch Soldaten waren. Ich wollte zum Beispiel wissen, wie es ist, ein Kokainkonsument zu sein. Mich interessierte, wie er zu den Narcos steht: weil er konsumieren muss, aber gleichzeitig nichts damit zu tun haben will.
Ein moralisches Dilemma.
Ja. In der Beschäftigung damit habe ich gelernt, wirklich zu schreiben. Es war wie ins Fitnessstudio zu gehen, um narrativ stark zu werden, um dann einen Roman schreiben zu können.
Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch in Mexiko ?
Die meisten konzentrieren sich auf die sozialen Aspekte des Romans, weniger auf die Form. Leute sagen mir: Dein Roman, das ist die Realität. Da muss ich sagen: Nein. Aber es stimmt natürlich, dass ich als Schriftstellerin über meine Gegenwart erzählen will, über das Mexiko von heute.
Welche Rolle spielt Gewalt in den Medien, in der Literatur?
In meiner Generation sind viele Schriftsteller, die das Thema Gewalt völlig vermeiden. Das ist auch eine politische Entscheidung und für mich ist es total respektabel. Ich interessiere mich jedoch sehr dafür und will es verstehen. Tatsächlich hatte ich eine Wette mit mir selbst: Mal sehen, wie viele europäische Ausgaben einen Totenschädel auf dem Deckblatt haben. Die französische hat einen, aber ich mag sie trotzdem. Die deutsche hat keinen, sie ist sehr elegant. Aber es geht nicht nur darum, den Lesern das Thema der Gewalt nahezubringen, sondern auch eine bestimmte Form, einen Stil.
Was haben Sie empfunden, als Sie hörten, dass Ihr Buch übersetzt werden soll?
Ich dachte, das ist ein Traum, wann werde ich aufwachen? Ich habe dann eine Weile versucht, nicht zu denken. Jeder Autor will, dass sein Buch mehr Leser erreicht. Gleichzeitig war es beängstigend, denn dies ist ein sehr persönliches Buch. Damals hatte ich den Eindruck, eine Schachtel mit meiner Seele in fremde Hände zu geben. Heute habe ich da mehr Distanz.
Neben Gewalt spielt Sexualität eine große Rolle. Dabei zeichnen Sie eine merkwürdige Mischung aus Machismus und Misogynie einerseits sowie recht offenen Formen von Trans-, Homo- und Bisexualität sowie Transvestismus andererseits.
Ja, da gibt es Männer, die reden völlig selbstverständlich davon, dass sie Sex mit anderen Männern haben, und sind zugleich zutiefst homophob.
Genau! Wovon ist das inspiriert?
Als ich jung war, hing ich in Veracruz viel in einem Park rum. Dort traf ich stets auf eine große Gruppe von Jungs. Einige von ihnen haben sich gelegentlich prostituiert. Aber sie sahen das gar nicht so. Sie waren sehr jung, 16 oder 17 Jahre. In ihren Augen waren sie die „Jäger“ und die Erwachsenen, von denen sie Geld erhielten, waren ihre „Opfer“. Es war sehr seltsam. Ein paar von ihnen starben sehr jung an Aids. In Mexiko sind Machismo und Homophobie so stark, dass sie sogar die schwule Gemeinschaft durchdringen. Es gibt sogar Leute, die der Meinung sind, wer die aktive Rolle beim schwulen Sex spielt, der ist gar nicht homosexuell.
Das hat Sie beschäftigt?
Ja, ich habe immer versucht zu verstehen, warum sie so waren. Ich versuche auch, meinen eigenen Machismo und meine eigene Misogynie zu verstehen, die ich seit meiner Kindheit aufgenommen hatte.
Meinen Sie, dass man bestimmte Rollenbilder einfach übernimmt?
Ja, lange Zeit dachte ich, ich mag es nicht, eine Frau zu sein, aber was ich in Wirklichkeit nicht mag, sind die Stereotype. Und es hat lange gedauert, bis ich das verstanden und es aus mir herausgeholt habe. Ich bin immer noch dabei, es ist ein Kampf fürs Leben.
Können Sie eigentlich vom Schreiben leben?
Überraschenderweise sieht es so aus, als würde es mir gelingen. In Mexiko ist es sehr schwer. Die meisten Menschen, die schreiben, sind Freiberufler. Wir haben keine Gesundheitsversicherung, wenn man sich nicht selbst kümmert. Wir haben keine Rentenversicherung. Aber in Mexiko zu leben, ist sowieso wie Extremsport.
Frauen in Mexiko: entführt, missbraucht, verstümmel
Dieses Land ist bis in den letzten Winkel von Gewalt durchdrungen – vor allem gegen Frauen.
Unter einem Femizid versteht man die Ermordung von Frauen, weil sie weiblichen Geschlechts sind. Überall auf der Welt finden sie statt, doch nicht in allen Ländern werden sie explizit statistisch erfasst. In Mexiko gelten laut dem Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI; Nationales Institut für Statistik und Geografie) Frauenmorde inzwischen als zweithäufigste Todesursache für Frauen zwischen 15 und 29 Jahren.
In einem allgemeinen Kontext der Gewalteskalation, nicht zuletzt durch den Drogenkrieg, sind Frauen und Mädchen besonders häufig Opfer brutaler Gewalt. Den traurigen Rekord hält dabei Ciudad Juárez, eine Großstadt an der Grenze zu den USA. Hier sterben statistisch betrachtet neun Frauen pro Tag.
Schon Anfang der 90er gelangte die Stadt zu trauriger weltweiter Berühmtheit. Die „Frauenmorde von Ciudad Juárez“ haben sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Hunderte Frauen wurden entführt, ihre Leichen tauchten, missbraucht und verstümmelt, später wieder auf. Die meisten waren sehr jung und Arbeiterinnen.
Fernanda Melchor, 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren, schreibt Romane und Reportagen. Sie lebt in Puebla und ist eine der bekanntesten Autorinnen ihrer Generation. Ihr zweiter Roman Saison der Wirbelstürme (Wagenbach 2019) wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
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