Treffpunkt Kohlenquelle, ein Café, genauer gesagt ein Laden in Berlin-Prenzlauer Berg, dem Stadtteil, in dem Tom Schilling lebt. Abgeranzte Sofas, eine verblichene rosa-gelb gestreifte Tapete, es könnte ein Ort aus Oh Boy sein. Diesem Film, in dem ein abgebrochener Jurastudent ziellos durch die Stadt treibt, lässig, leicht depressiv. In einer der in Schwarz-Weiß gedrehten Episoden will der Müßiggänger, den Tom Schilling spielt, Kaffee zum Mitnehmen bestellen. „Den Arabica oder den Columbia Morning?“, fragt die Kellnerin. Er guckt irritiert. „Welche Sorte kommt dem normalen Kaffee am nächsten?“ Tom Schilling bekam für die Rolle 2012 den Deutschen Filmpreis.
„Hallo, wir sind verabredet, oder?“, sagt Tom Schilling und streckt mir förmlich die Hand entgegen. Er sieht unauffällig aus, weißes T-Shirt, knappe graue Hose. Sein Gesicht glänzt vor Sonnencreme, es ist ein heißer Vormittag. Wenn man draußen an einem der Tische sitzt, schaut man auf einen Hipster-Falafel-Imbiss, in dem mit den Kunden vor allem Englisch gesprochen wird. Tom Schilling bestellt Kaffee, schwarz. Er wirkt seltsam abgeklärt.
In diesen Tagen kommt Werk ohne Autor, der neue Film von Florian Henckel von Donnersmarck, ins Kino (siehe Kasten). Tom Schilling spielt darin die Hauptrolle, den Künstler Kurt Barnert, der aus der DDR in die BRD flieht, sich dort verliebt und einen kreativen Schub hat. Das Verhältnis zu seinem autoritären Schwiegervater ist angespannt, dessen NS-Vergangenheit berührt auch Kurt Barnerts Leben. Der Film basiert lose auf der Biografie des Malers Gerhard Richter. 2004 wurde bekannt, dass dessen erster Schwiegervater Heinrich Eufinger zu den Männern gehört hatte, die seine Tante im Zuge der NS-Euthanasie-Programme zwangssterilisierten.
Ein Maler wird zum Medium
Mehr als drei Jahrzehnte deutscher Geschichte deckt Florian Henckel von Donnersmarck in Werk ohne Autor ab, und allein schon das Gewicht der Historie verleiht dem Film die Bedeutsamkeit, die ihn wie reflexhaft als Vertreter deutscher Oscar-Hoffnungen empfiehlt. Die Lebensdaten von Gerhard Richter geben die grobe Struktur vor, wobei der Film kein Biopic sein will. Er beginnt in den 30er Jahren bei Dresden, wo ein kleiner Junge namens Kurt von seiner emotional instabilen Tante zu Ausstellungen mitgenommen wird. Sie lehrt ihn, „nicht wegzuschauen“. Wie tatsächlich in Richters Familie geschehen, wird diese Tante nach einer Einlieferung in die Psychiatrie zwangssterilisiert und zuletzt als „unwertes Leben“ umgebracht.
Im epischen Drei-Stunden-Format schildert der Film Vor- und Nachkriegszeit, zeigt die DDR im Aufbau, wo Kurt, nun gespielt von Tom Schilling, als Künstler des sozialistischen Realismus reüssiert, und wechselt dann mit dessen Flucht kurz vor dem Mauerbau ins von moderner Kunst nur so vibrierende Düsseldorf. Dort verliert Kurt im Wildwuchs der Moderne die Orientierung – bis ihm alte Familienfotos schließlich den Weg weisen. Tom Schilling unterspielt mit dem ihm so eigenen passiven Charme jede Pathosfalle, die ihm das Drehbuch stellt. Sein Kurt wirkt, als sei er nie richtig involviert – genau das aber macht die Figur interessant. Kurt macht sich zum Medium, in das sich das komplexe deutsche Spannungsfeld wie von Geisterhand einschreibt. Als populärer, fernsehgerechter Film konzipiert, erzählt Werk ohne Autor auf diese Weise von mehr als den üblichen schicksalhaften Verstrickungen, zeigt Schatten auf, die Geschichte in der Kunst hinterlässt.
Es sei „ein vielschichtiges Porträt deutscher Identität“ geworden, sagt Tom Schilling. Klingt sehr allgemein. Ja, aber mehr wolle er zum neuen Film nicht sagen, das sollten dann andere beurteilen. Er sehe nur die Rolle, ihn würden dabei künstlerische Dinge interessieren. Nicht das Politische.
Im ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter spielte er den sensiblen Wehrmachtssoldaten Friedhelm Winter, der sich nie freiwillig zum Einsatz meldet und als Feigling gilt. Einige Jahre zuvor konnte man ihn in Napola – Elite für den Führer als feinsinnigen Sohn eines Gauleiters sehen, der nur den Selbstmord als Ausweg sieht, als ihm eine Karriere in der Waffen-SS droht. Kein gelungener Film, aber es ist einer mit Tom Schilling. Warum spielt er solche Rollen? Tom Schilling verschränkt die Arme, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück, blinzelt. Er habe sie sich ausgesucht, weil er mit diesen introvertierten Typen etwas habe anfangen können.
Er will nun doch noch was zu Werk ohne Autor sagen: Der Film habe ihm einen alten Traum erfüllt. „Ich wollte als Jugendlicher eigentlich Maler werden, gar nicht Schauspieler.“ Die Gelegenheit, sich für den Dreh stundenlang ins Atelier zu stellen, war ihm sehr willkommen. Über ein paar Volkshochschulkurse war er nie hinausgekommen. „Esoterisch, wie ich bin, glaube ich schon, dass mich das sozusagen auf diese Rolle vorbereitet hat. Ich konnte mit der Malerei abschließen. Ich habe meinen Frieden damit gefunden.“
Seine Mutter hat ihn als Kind immer wieder zu Castings gebracht, erzählt er. „Die hatte ein gutes Gespür dafür, dass das mein Talent ist, und ist dann hartnäckig geblieben.“ Seit er sechs Jahre alt war, ist er auf der Leinwand zu sehen. Schilling ist 1982 in Berlin-Mitte geboren, 1988 trat er in dem DDR-Film Stunde der Wahrheit auf. Nahm er es seiner Mutter übel, dass sie ihn drängte? Er überlegt länger. „Vielleicht insgeheim“, sagt er. „Aber es macht natürlich etwas mit einem, wenn man viel Rückmeldung und Anerkennung für das bekommt, was man macht. Die Leute sagten ja, es sei gut, was ich tue.“ Er brauche dieses Feedback bis heute, er empfinde sich im Grunde immer noch als schüchtern. Anzumerken ist ihm das im Gespräch nicht.
Tom Schilling wurde mit Crazy (2000) bekannt, der Verfilmung des autobiografischen Romans von Benjamin Lebert. Er spielte dessen vorlauten Internatsfreund Janosch. Da hatte Schilling selbst gerade Abitur gemacht. 2006 bekam er ein Stipendium für die Lee-Strasberg-Schule in New York, im selben Jahr wurde er Vater seines ersten Sohnes.
Es habe dann in Deutschland durchaus Rollen gegeben, die er nicht bekommen hat, obwohl er sie gerne gespielt hätte. Wie die des jungen Michael Berg in Stephen Daldrys Verfilmung von Der Vorleser. Er sei ein großer Fan von Kate Winslet gewesen, die Hanna Schmitz spielte, die weibliche Hauptrolle. „Ich hätte da viel Persönliches reinbringen können“, sagt er. Was denn?
Ist das noch Jazz?
Schilling wartet, überlegt. Es habe etwas mit einer Beziehung zu einer älteren Frau zu tun. Mehr will er nicht sagen. „Rollen machen ja eine Entwicklung durch. Als Regisseur muss man sich entscheiden, ob man eher jemanden will, der dem Startpunkt entspricht oder dem Endprodukt.“ Die Besetzung von David Kross sei perfekt für Ersteres gewesen, er habe die Unschuld versprüht. Er, Tom Schilling, hätte eher dem an der Beziehung Gereiften entsprechen können. Man würde gern mehr darüber erfahren, was da los war, er schüttelt den Kopf. Macht auf einmal dicht. Und wechselt das Thema.
Musik. Tom Schilling hat eine Band, Jan-Ole Gerster, Regisseur von Oh Boy, habe ihm vor ein paar Jahren eine Gitarre geschenkt, weil Schilling Musik machen wollte. Im vergangenen Jahr veröffentlichten Tom Schilling & The Jazz Kids das Album Vilnius, das Coverziert ein melancholisches Bild von Gerhard Richter: Seestück. Schilling hatte es in einer Ausstellung gesehen und dem Maler dann geschrieben.
Unter dem Namen The Major Minors hatte Schillings Band die Filmmusik zu Oh Boy komponiert, daher kannte man sich. Er habe die Band gezwungen, andere Musik zu machen, erzählt er trocken. Das „Jazz“ im Namen weckt jedoch falsche Erwartungen, die Platte klingt mehr nach einer etwas düsteren Mischung aus Nick Cave und Brecht/Weill. Es sei immer ein Traum gewesen, ein Album zu machen, und sowieso, er verstehe nicht, warum „musizierende Schauspieler“ in Deutschland als so ungewöhnlich betrachtet werden, sagt er.
Solche Ressentiments ärgern ihn. Andererseits: Warum müssen eigentlich so viele Schauspieler auch noch singen? Die Leute wüssten schlicht nicht, dass beide Metiers nahe beieinanderliegen. „In jeder Schauspielschule lernt man das Singen.“ Er habe sechs Jahre gebraucht, um die Lieder für das erste Album zu schreiben, es war zu vieles gleichzeitig. Bei ihm gehe nur eine Sache: Schauspiel oder Musik.
„Ach, hallo“, ruft er einem Mann zu, der mit Kinderwagen am Café vorbeispaziert, im unauffälligen Papa-Look. Kurzer Austausch, die Familien sind später am Tag verabredet, dann konzentriert sich Schilling wieder aufs Gespräch. Der Kleine sei der beste Kindergartenfreund seines Sohnes. „Die sind aber weggezogen, und die beiden vermissen sich ganz doll.“
Tom Schilling ist früh Vater geworden, da war er 24. Er und seine damalige Freundin hätten sich bewusst für das Kind entschieden. „Es war paradox: Ich war in meinem Freundeskreis der Jüngste, aber der Erste, der ein Kind bekam.“ Wie hat es ihn und sein Leben verändert? „Man wird nicht mehr so häufig angerufen, weil die Leute davon ausgehen, dass man sowieso keine Zeit hat.“ Man brauche „Verbündete“ im Freundeskreis.
Mit seiner jetzigen Lebensgefährtin Annie Mosebach hat er dann noch zwei Kinder bekommen, einen Sohn 2014 und im vergangenen Jahr eine Tochter. Routine und Rhythmus würden sein Leben bestimmen, sagt er. Dreharbeiten hingegen sind unregelmäßig. Wie beeinflusst das seinen Familienalltag? „Zum Glück hat meine Frau geregelte Arbeitszeiten“, sagt er. „Denn manchmal bin ich wochenlang nur ein Wochenendpapa.“ Aber dann verbringe er wieder viel Zeit zu Hause mit der Familie. Sie fahren nach Brandenburg in den Garten, den sie dort gemietet haben. Ein weiterer Nachteil als Schauspieler mit Kindern sei die Bekanntheit, erzählt er weiter. „Es ist unmöglich, die Kinder vor dem eigenen Ruhm zu schützen.“ Er habe darüber viel nachgedacht, sich auch mit berühmten Freunden unterhalten. Als Schauspieler werde man nun mal erkannt. Ob auf dem roten Teppich oder auf dem Spielplatz: Tom Schilling ist immer Tom Schilling. Und die Leute wollen Selfies oder „einfach mal sagen, was für ein toller Schauspieler“ er sei. Er versuche trotzdem, das von den Kindern einigermaßen fernzuhalten. „Bei uns heißt es auch einfach: Papa geht zur Arbeit. Und nicht: Papa fährt nach Venedig, um seinen neuen Film der Weltpresse vorzustellen.“
Allzeit bereit, all das
Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten, wie Kinder von Berühmtheiten mit ihrer Herkunft umgehen. Entweder streben sie danach, mindestens genauso berühmt zu werden. Oder sie wollen gar nichts damit zu tun haben, verleugnen oder verschweigen zumindest, wer die eigenen Eltern sind. Die dritte Variante ist die tragischste: Sie können nicht damit umgehen, fallen nur durch Fehltritte und Exzesse auf. Er wolle seine Kinder zu nichts drängen, anders als Til Schweiger, der seine Kinder schon früh vor die Kamera gesetzt habe. Sie sollen selber entscheiden.
Tom Schilling wurde in einem anderen Land geboren. Er war acht Jahre alt, als die DDR verschwand, und mit ihr die Welt seiner Kindheit, die seiner Eltern, die als Kartografen arbeiteten. „Ich wünsche mir schon manchmal, ich hätte die DDR länger erlebt“, sagt er. Denn oft könne er nicht mitreden. „Ich kann nicht beurteilen, ob Das Leben der Anderen jetzt ein schlechter oder ein guter Film ist.“ Ob er das Leben in der DDR authentisch widerspiegelt.
Seine Erinnerungen sind spärlich: „Als Kind ist jeder Tag voller Premieren. Es ist wie Urlaub. Ob man nun an die Ostsee fährt oder auf den Ku’damm, den Unterschied merkt man nicht.“ An den Trabi, den seine Eltern besaßen und den man den Hügel hochschieben musste, erinnert er sich freilich. „Und natürlich an die Schule, den Morgenappell, die Jungpioniere, ‚Allzeit bereit‘, all das.“
Zur Wendezeit sei zu Hause diskutiert worden. „Mein Vater muss wohl mal von den Demonstrationen erzählt haben und von den Slogans. Und da wurde dann auch ‚Gorbi, hilf uns‘ skandiert.“
Als er das mit seinem Kumpel am nächsten Tag auf dem Schulhof wiederholte, sei die Lehrerin wenig begeistert gewesen. „Aber die sah ihre Felle längst davonschwimmen.“ Dieselbe Lehrerin hatte nur einige Monate zuvor seine Schiebermütze in den Papierkorb geworfen und seine Eltern einbestellt, weil die Mütze vom Westfernsehen war. „Ich wusste nicht, was ‚ZDF‘ ist, mir gefiel nur das Mainzelmännchen darauf. Die Mütze gibt es immer noch, die tragen jetzt meine Kinder.“
Wie ist es jetzt mit dem Erwachsensein, ist dieser Prozess abgeschlossen? Er wartet. „Ich glaube, irgendwann in den letzten Jahren ist das passiert, ja.“ Es sei ein Prozess gewesen. Er sei seit Jahren nicht mehr nachts feiern gewesen, fahre mit der Familie aufs Land. „Ich höre The Libertines auf Zimmerlautstärke! Man hat ja keine Wahl.“ Es klingt nicht bitter.
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