„Zum Glück gibt’s noch Leute, die CDs kaufen“

Porträt Dota Kehr, einst Straßenmusikerin, jetzt beliebte Liedermacherin, hat Werke der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko vertont
Ausgabe 18/2020

Es ist – klaro – wenig los an diesem sonnigen Frühlingsmorgen im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg. Die üblichen Dealer stehen herum, verticken ihren Stoff. Man sieht Spaziergänger mit Hunden, ein paar spielende Kinder. Dota Kehr hat vorgeschlagen, sich am ehemaligen Pamukkalebrunnen zu treffen, sie wohnt hier ganz in der Nähe. Die Sängerin verspätet sich, egal, alle haben gerade mehr Zeit. Schwierig, eine Lücke zu finden zwischen Homeoffice und Homeschooling ihrer Kinder, sagt sie und lächelt.

Dota Kehr grüßt die auf den begrünten Terrassen des ehemaligen Brunnens spielenden Kinder. „Lass uns um die Ecke einen Kaffee holen“, sagt sie, „der kostet sogar nur eins achtzig.“ Sie ist groß und zierlich, die blonden Haare sind von leichtem Grau durchzogen. Dota Kehr, Songwriterin, Sängerin, Musikproduzentin, trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, darüber eine dünne hellblaue Jacke, gegen den Wind. Sie fängt sofort an, von ihrem neuen Album zu erzählen, von Kaléko, auf dem sie erstmals keine eigenen Texte versammelt, sondern Gedichte von Mascha Kaléko vertont, der jüdischen Dichterin, die vor dem NS-Regime fliehen musste. Es sei anfangs eher ein Nebenprojekt gewesen, sagt sie, eine Liebhabersache, von der sie nicht ahnte, dass die so gute Resonanzen bekommen würde. Ein wildfremder Konzertbesucher habe ihr nach dem Auftritt einen Gedichtband Kalékos überreicht, die sie bis dahin gar nicht gekannt habe, erzählt Dota Kehr. Wer und wo das war, das habe sie längst vergessen. Beim Lesen kamen ihr dann plötzlich Melodien in den Kopf. Chanson von der Fremde, das war der Text, bei dem ihr klar geworden sei, dass es musikalisch funktionieren könnte.

„Kalékos Texte wurden auch früher schon vertont. Ich glaube, auch Claire Waldoff hat sie gesungen“, sagt Dota Kehr. Nicht jedem ist dieser Name heute noch ein Begriff. Dota Kehr fängt sofort an zu singen: „Wegen Emil seine unanständige Lust“ – berlinernd natürlich. Die 40-Jährige wurde in dieser Stadt geboren.

Die Kleingeldprinzessin

Sie bleibt stehen, grüßt eine Frau in einem blauen Mantel mit Vornamen. „Ich hab dich im Fernsehen gesehen!“, schwärmt die. Dota Kehr greift in ihre blaue Jutetasche und überreicht der Bekannten eine ihrer neuen CDs. Dota Kehr gehört nach Kreuzberg, man kennt sie hier, seit 18 Jahren lebt sie in diesem Bezirk, der sich zur Wohlfühlgegend gemausert hat, teuer und touristisch geworden ist. „Mir fällt jetzt erst auf, wie viel schöner es ist ohne die ganzen Touristen hier“, sagt Dota Kehr, es soll nicht nach Bashing klingen, es sei einfach so viel nachbarschaftlicher, die Straßen sind leerer und ruhiger.

Wir erreichen das kleine Lokal, jeder muss es einzeln betreten, um seinen Cappuccino zu bekommen. Wir setzen uns auf die Stufen. Dota Kehr erzählt vom Lockdown, wie es ihr als Künstlerin damit geht, auch als Mutter, aber das möchte sie lieber privat halten. Sie dreht sich eine Zigarette. „Wir hatten zum Glück eh vor, erst ab August auf Tour zu gehen, und können jetzt wie geplant im Studio arbeiten – das geht auch mit Abstand“, sagt sie. Großveranstaltungen sollen noch mindestens bis zum 31. August verboten sein, was genau man unter „groß“ verstehen soll, ist noch unklar. Und so hofft Dota Kehr, und mit ihr all die anderen in der Szene, „dass es vielleicht mit unter 1.000 Leuten möglich sein wird“. Was würde sonst geschehen, hat sie Reserven? „Sonst wird’s eng“, sagt sie knapp. Sie wirkt lässig, aber nicht sorglos. Als sie nach Kreuzberg zog, da waren die Mieten noch günstig. Sollten die Livekonzerte jetzt ausbleiben, wird es bedrohlich für sie, ihre Band Dota und ihr Label „Kleingeldprinzessin Records“.

Diese Unsicherheit ist eine eher ungewohnte Situation für die „Principessa degli Spiccioli“ – die Kleingeldprinzessin. Seit sie 24 Jahre alt war, könne sie von ihrer Musik leben. Als Straßenmusikerin tourte sie 2002 mit einer Freundin durch Italien, da bekam sie den Spitznamen, den sie lange Zeit als Künstlerin trug.

Dota Kehr, die mit Anfang 20 noch nicht mal Gitarre spielen konnte, schuf sich eine treue Fangemeinde, mit ihrer klaren, hellen Stimme und Texten voller Alltags- und Großstadtpoesie. Sie sang über einen Typen in der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe), den sie wiedersehen will und der gerade beim Schwarzfahren erwischt wird, über Umwelt, Migration und 2015 auch über Nationalismus und Grenzen. Eine Anklage, ein Statement gegen Stacheldraht. Auf Youtube zählte Grenzen eine halbe Million Aufrufe. Ein Jahr später konnte man häufiger ihren Song Rennrad im Radio hören, eher ein leichtes Sommerlied, da träumt sie von einem Mann mit Rennrad, der sie alle kriegt. „Ich hab die Blumen weggeworfen und die Katze verschenkt, lass uns aufbrechen, Baby.“ Dota Kehr wurde immer bekannter, eine Plattenfirma wollte sie, aber sie schlug das Angebot aus, Kehr wollte ihre eigene Chefin bleiben.

Eigentlich könnte sie als Ärztin arbeiten, Dota Kehr hat ein abgeschlossenes Medizinstudium, doch es zog sie zur Musik, das hat sie schnell gemerkt. „Jedes Mal, wenn ich überlegte, das Studium abzubrechen, empfand ich plötzlich einen riesigen Druck“, sie machte also weiter. Denn Musik kann man machen, wenn einem was einfällt. Und wenn nicht? Jeder braucht ein Rettungsnetz, für sie war es die fertige Ausbildung. Angesichts des drohenden Gesundheitsnotstands hat sich die Sängerin kürzlich bei der Personalstelle eines Krankenhauses beworben – als Ärztin auf Abruf. „Aus Verantwortungsgefühl.“

Womöglich ist es ihr Notnagel, wenn es im Herbst immer noch keine Konzerte geben kann. „Vor zehn, 15 Jahren wäre die Popmusikbranche nicht so anfällig gewesen“, sagt sie. Mittlerweile verdienen die meisten MusikerInnen vor allen Dingen an den Konzerten. „Zum Glück gibt es noch Leute, die CDs kaufen“, sagt sie, aber es werden immer weniger.

Dota Kehr weiß, wie aufwendig Alben hergestellt werden – womöglich noch mit Booklet! –, es kostet eben Geld. „Wenn man sich mal durch die Spotify-Neuveröffentlichungen klickt, merkt man schnell, dass vieles unter großem Kostendruck billig produziert wird, und darunter leidet auch die Qualität der Alben“, sagt sie. Auf Streaming-Plattformen bekommen die MusikerInnen 0,3 Cent pro Stream. Das bedeutet, dass 10.000 Streams 30 Euro einbringen, beziehungsweise 1.000 Streams 3 Euro, und davon zieht der Vertrieb noch seine Prozente ab. Auf Youtube tritt sie nun, in Lockdown-Zeiten, in verschiedenen Formaten auf. Sie, die immer frei und unabhängig war, reagiert frustriert darauf, nun gewissermaßen doch von großen Konzernen abhängig zu sein. Dennoch: „Ich wünsche mir eine Welt, in der jeder so glücklich mit seinem Beruf ist, wie ich es sein darf.“

Kaléko, ihr neues Album, ist von mehreren Radiosendern zum Album der Woche gekürt worden. Es sind 14 Lieder, die meisten sind ziemlich kurz. Das sei dem Material geschuldet. „Kaléko hat auch viele lange Gedichte, die sehr schön sind. Die waren dann aber meistens nicht so zum Singen geeignet.“

Es sei ihr wichtig gewesen, dass die sprachlichen Denkmäler, die Kaléko dieser Stadt gesetzt hat, vertreten sind. So heißt es in Julinacht an der Gedächtniskirche: „Laut glitzern Fenster auf der Tauentzien / Man kann sich herrlich ziellos treiben lassen / Da protzen Cafés mit dem bisschen Grün / Und geben sich nebst Efeu als ‚Terrassen‘.“

Worum es in diesem Text geht, erscheint einem einerseits merkwürdig, andererseits glasklar weit weg. Die Gegend um Gedächtniskirche und Ku’damm, Tauentzien und Bleibtreustraße – wo Mascha Kaléko eine Zeitlang lebte – ist längst nicht mehr Ort des mondänen und recht wilden Lebens aus Lichtspielhaus, Schnaps und Kokain. Heute stehen da hohe Bürotürme – und dahinter beginnen die Altbaublöcke des Charlottenburger Geldadels. Oder stehen Renditeobjekte leer, statt vermietet zu sein.

Kaléko hat in ihren Gedichten auch die Erfahrung von Verfolgung und Flucht thematisiert, wie in Für Chemjo zu Pessach 1944, das Kaléko im Exil ihrem Mann widmete. Dota Kehr kann das vertonen, ohne dass es pathetisch wirkt oder künstlich. Es zeigt ihr Können – und das ihrer Band. Ihr Schlagzeuger Janis Görlich hat für das Album außerdem drei Instrumentalstücke komponiert. „Die Texte sind so dicht, da war es nötig, das etwas zu entzerren.“

Während der Auseinandersetzung mit Kalékos Biografie habe sich ihr Blick auf die Gedichte verändert, und der auf die Stadt. Wenn man weiß, dass sie im Exil war, erscheint beispielsweise die Zeile „Wohin ich immer reise / ich komm nach Nirgendland“ in einem anderen Licht.

Für ihr Kaléko-Album konnte Dota Kehr Liedermacher wie Hannes Wader und Konstantin Wecker gewinnen, Dinosaurier und Legenden, aber auch jüngere Künstler wie Alin Coen. Es sind Texte einer dritten Person, die sie da vertont, insofern mache es Sinn, diese im Duett zu singen. Hannes Wader, der sich Ende 2017 zurückgezogen hat, den habe sie erst überreden müssen. Sie fuhr zu ihm nach Kassel, das würde heute nicht mehr gehen. Mit etwas wackliger, rauer Stimme singt er nun doch noch mal. Auf eine Leierkastenmelodie heißt das Gedicht, und die Zeile „Tag um Tag, Jahr um Jahr hab ich nach dir gespäht. / Doch da warst du auf endlosen Fahrten“ – sie habe einfach zu gut gepasst. Es erinnere sie an Waders Heute hier, morgen dort und erzählt davon, wie die Dichterin im Jahr 1956 zum ersten Mal nach Berlin zurückkehrte, da schrieb sie: „Und alles fragt, wie ich Berlin denn finde? / – Wie ich es finde? Ach, ich such es noch!“

Ausgezeichnete Poesie

Lyrikvertonung Was sie macht, ist beim „alternativen Bildungsbürgertum“, das ihr zuhört, keine Nische mehr – Kleinkunst und Erfolg schließen sich auch da nicht mehr aus. Liedermacher heißen jetzt Singer-Songwriter, was politisch ist, soll und darf auch poetisch sein.

Dorothea „Dota“ Kehr, 1979 in Westberlin geboren, wurde von Brasilien mit all seinen musikalischen Einflüssen geprägt. In Deutschland aufgewachsen, hat sie als Straßenmusikerin längere Zeit in Chile und Brasilien verbracht, sang schon als Kind brasilianische Lieder aus der Heimat ihres Babysitters mit. Später waren es vor allem brasilianische Künstler, deren Musik sie begleitete: Tom Jobim oder Chico Buarque. 2003 folgte aus einem Aufenthalt in Fortaleza ein Album mit dem Musiker Danilo Guilherme.

Ihre Band firmierte bis 2013 als „Dota und die Stadtpiraten“, danach nannten sie sich einfach Dota. Die beiden Gründungsmitglieder Jan Rohrbach (E-Gitarre) und Janis Görlich (Schlagzeug) sind immer noch oder wieder dabei, seit 2018 gehört auch Keyboarder Patrick Reising dazu.
Ihr Album Keine Gefahr wurde 2016 unter anderem mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Sie gewann als Autorin außerdem den Deutschen Kleinkunstpreis und den Fred-Jay-Textdichterpreis.

Dotas neues Album Kaléko, eine Hommage an die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975), erschien Anfang April. Dota singt darauf im Duett mit namhaften Liedermacherkollegen, unter anderen Konstantin Wecker, Hannes Wader, Alin Coen und Francesco Wilking von Die Höchste Eisenbahn. Ein Booklet zu Kaléko gibt es nicht – die Rechte für den Abdruck der Gedichte Mascha Kalékos waren zu teuer.

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