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Wenn Jürgen Wiebicke vom WDR seine Philosophie-Interviews mit „Grübeln sie nicht so viel!“ beendet, dann ist das immer ein bisschen komisch. Schließlich hat man ihm und seinem Gegenüber bereits eine knappe Stunde beim Grübeln zugehört und zumindest passiv mit-gegrübelt. Und dann grübelt man auch noch darüber, warum er man jetzt auf einmal nicht mehr grübeln soll. Vergangene Woche war Axel Honneth zu Besuch und sprach über die Geschichte und Aktualität der kritischen Theorie. Noch viel mehr Widersprüche, die man hier nach-hören kann (via, danke für den Hinweis an fewa).
Der Widerspruch, das „gespaltene Bewusstsein“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, bestand laut Honneth zunächst darin, überall eine blockierte, „verwaltete Welt“ zu erkennen, gleichzeitig aber zu versuchen, die Gesellschaft innerhalb dieser Strukturen reformieren zu können – zum Beispiel über die Universität. Nach der Flucht ins amerikanische Exil verstärkte sich die pessimistische Grundhaltung – aufgrund eines gewissen „Schocks“, den Adorno und Horkheimer in der USA erfahren hätten: Sie sahen, wie die Menschen nur noch an Fernsehgeräten vor sich hindämmerten, angepasst an die ökonomische Zwänge und die Kulturindustrie – „Ich-Schwäche“ wurde eines der Lieblingswörter Adornos. Dennoch meinte Adorno, ein aufkommendes Desinteresse an der vorgesetzten Welt zu erkennen. Der Mensch habe nach Adorno immer noch, so Honneth, „eine Art von unverwüstlichem Interesse am Besseren“. Marcuse werde dieses Interesse später zu einem Widerstandspotential ausbauen.
Honneth erzählt, warum er selbst immer eine gewisse Distanz zu dieser negativistischen Gesellschaftstheorie eingenommen hat. Er komme mit Habermas aus einer sozialdemokratisierten Epoche, die ein wesentlich höheres Vertrauen in Demokratisierungspotentiale hatte. Die Blockaden innerhalb der Gesellschaft hätten damals abgenommen. Habermas entrümpelte daraufhin die alte kritische Theorie und setzte den Schwerpunkt einer möglichen Veränderung auf die Kommunikation, weg von der Arbeit und der Beziehung zur Natur. Der Weg zur Freiheit führte bei Adorno noch über die Kunst oder andere Organisation der Arbeit – Habermas war jedoch der Meinung, dass sich trotz gewisser ökonomischer Zwänge, kommunikativ vernünftige Verhältnisse herstellen lassen.
In den letzten zwei Jahrzehnten hätte sich die Situation jedoch geändert. Die Ökonomie, sagt Honneth, habe sich aus der Gesellschaft gelöst und bestimme das Soziale und das Private so stark, dass man wieder an bestimmte Einsichten der Klassiker anknüpfen müsse. Er selbst hätte sich bemüht, Reste der alten kritischen Theorie in Habermas' Programm zu integrieren, denn der Zwang der Ökonomie und die Entgrenzung ihrer Logik dürften nicht mehr unterschätzt werden.
Wie früher kaum vorstellbar dränge der Markt mittlerweile in andere Bereiche – Universitäten, Kultureinrichtungen, Kindergärten, Familien. Und damit komme auch der Rationalitätstyp des homo oeconomicus, ein strategisch-kalkulierendes, egozentrisches und nutzen-orientiertes Verhalten, in andere Sozialbereiche, wie die demokratische Öffentlichkeit, und untergräbt diese. Die Liebe sei schon bei Adorno eine Form der Rest-Utopie gewesen, auch sie drohe nun von dem dominanten Rationalitätstyp ökonomischen Handelns aufgefressen zu werden.
Das Programm des Frankfurter Instituts für Sozialforschung sei somit, die Eigenständigkeit der Sphären und Systeme ins Licht zu rücken und ihre Gefährdung aufzuzeigen. Der Markt sei nur für einiges gut, in den meisten anderen Bereichen gebe es jedoch andere und bessere Formen der Organisation. „Das klingt sehr ehrgeizig“ sagt Wiebicke am Schluss – „ja", entgegnet Honneth, „aber das ist doch besser als zu schwach und zu reformistisch.“
(Illustration: comicallyvintage)
Kommentare 5
Lieber Herr Dörfler,
also wenn die aktuellen Frankfurter à la Honneth wirklich nichts anderes mehr aufzubieten haben als das Phantasma, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in »Sphären« aufgespalten seien und als solche in ihrer »Gefährdung« durch die Ökonomie besonders ins Licht gerückt werden müssten (wozu eigentlich, etwa um der naheliegenden reformistischen Versuchung nicht zu erliegen? Damit die Asbestplatten im Westflügel nicht auf den Schreibtisch knallen?), dann ist das, an Adorno und Horkheimer gemessen, ein Ausmaß an intellektueller Degradation, das sich mit geriatrischen Momenten allein nicht mehr zureichend erklären läßt.
In beständig unerfreulicher werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen ist kein Gedanke es wert, gedacht zu werden, der nicht schon in sich selbst ein einziges entfaltetes Existentialurteil über die ganz falsche Gesellschaft ist. Er hätte ein echter Einspruch gegen das uns auferlegte Leben zu sein, das zu führen wir gezwungen sind. Wir hatten nicht zu entscheiden, ob wir es führen wollen, aber wir haben sehr wohl zu entscheiden, ob wir es weiterführen wollen. Der Verantwortung, diese Entscheidung zu treffen, kann sich früher oder später niemand entziehen, sie kann aber auch nur von Einzelnen getroffen werden — dabei hilft uns aber keine »Sphäre«, die im Denkmalschutz konserviert werden soll.
Welchen Beitrag leisten Honneth et al. dazu, diese Entscheidung zu provozieren? Welchen Beitrag der Vernunft leisten sie an diejenigen, denen der allgemeine Wahnsinn eine noch größere und existenziellere Bedrohung für Leib und Leben ist, als es der Normalfall ohnehin ist? Welchen Beitrag leisten sie dazu, daß nicht alle gleich, sondern gerade verschieden sein können, ohne Angst haben zu müssen, wie das die Losung zu Frankfurt dermaleinst war?
Grüße,
J. A.-P.
@j-ap: Lieber J.A.-P.,
leider habe ich bisher nur beiläufig in die neue Frankfurter Schule geschnuppert, aber das Interview hat mich eher dazu ermuntert, mich dort einmal länger niederzulassen. Neben „Sphären“ war noch von „Systemen“ die Rede – ich weiß nicht, ob Sie das schöner finden, aber Honneth bedient sich stärker bei Luhmann als bei Habermas, und untersucht, wie sich die verschiedenen Systeme ausdifferenzieren. Das finde ich nicht ganz unsympatisch. Denn dass das mit dem kommunikativen Handeln nicht so ohne weiteres klappt, das musste man schließlich schon im Kindesalter mehrfach schmerzhaft feststellen.
Und was Ihr Existential betrifft, so würde ich das ein bisschen entdramatisieren (das ist jetzt allerdings ein Novum für mich). Denn der Kritiker ist per se von zerrissener Natur, wenn er die Gesellschaft kritisiert, kritisiert er sich immer mit. Die moralische Reinheit gebietet nun Ihre entweder-oder-Entscheidung, bzw. das Fight-Club-Motto „Self-destruction might be the answer“. Aber neben dem Versuch eben jenes „Falsche“ des Systems aus sich selbst herauszuprügeln (um ganz dramatisch bei Fight-Club zu bleiben), muss man wohl mit dieser Zerrissenheit leben. Alles andere würde dazu führen, irgendwann mit der nächsten Entweder-Oder-Entscheidung konfrontiert zu werden: „Love it, or leave it!“ Dann ist das schöne Existential zum banalen Holzhammer geworden. Da kann dann auch keine Theorie mehr helfen, welcher Schule auch immer.
Beste Grüße,
SD
Alternativer Titel:
Resteverwertung: Honneth über das Erbe der kritischen Theorie.
Es kommt die Zeit, da werden neue Ideen spießen.
Lieber Herr Dörfler,
nun fangen Sie bitte nich auch noch damit an! Ich kann mir so schon oft genug anhören, daß ich, der »Vernünftler«, doch bitte mental etwas abrüsten möge. Wobei ich nun, eine Nacht (halb) darüber geschlafen habend, über das aufkommende Pathos meines Kommentars doch reichlich befremdet bin — es liegt mir normalerweise fern, ich hoffe, Sie nehmen es nicht allzu übel.
Luhmann ist mir im Zweifel durchaus lieber als Habermas, aber damit ist eben zugleich die Frage aufgeworfen, weshalb man denn den Umweg über Honneth Cie. nehmen und nicht gleich beim Original bleiben sollte.
Was Sie über den Kritiker schreiben, ist vollkommen richtig, ich nehme ich vom Gesagten ja auch in gar keiner Weise aus. Ich für meinen Teil habe allerdings schon vor einiger Zeit das »leave it!« in Betracht gezogen und bin auch daran, das ins Werk zu setzen. Nicht heute und nicht morgen, denn derlei dauert, aber demnächst.
Zu dem Bild im Artikel ist mir übrigens noch etwas eingefallen:
Ein junger Cyborg namens Asis
umwarb Frauen auf jeder Basis.
Doch als diese Damen
sein 'Werkzeug' wahrnahmen
da gingen sie hin, woher sie kamen.
Grüße,
J. A.-P.
Lieber j-ap,
das klingt so, als würden Sie sich bald davon machen, um sich der Lyrik zu widmen. Ich bin gespannt.
Das mit dem Pathos nehme ich Ihnen natürlich nicht übel – ganz im Gegenteil.
Einen schönen Abend!
SD