Vom anderen Planeten

Herbert Marcuse „Der eindimensionale Mensch“ wird 50. Ein Theorie-Musik-Theater-Abend feiert den Philosophen
Ausgabe 45/2014

Zurück in die industrialisierten Länder Anfang der 60er Jahre, zurück zu Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Fernsehen: Wer heute den Eindimensionalen Menschen aufschlägt, steigt in eine behagliche Zeitreisekapsel. Rundum abgesichert konnte man herrlich stumpf vor sich hindämmern.

Für Herbert Marcuse war das schon damals der Horror. Während die Kritische Theorie bis dahin verdeutlicht hatte, warum das Proletariat den Faschismus einer vernünftigen Revolution vorgezogen hatte, beschrieb Marcuse in Der eindimensionale Mensch, wie in der „verwalteten Welt“ die Sehnsucht nach Veränderung den Annehmlichkeiten von Reihenhaus, Kleinfamilie und TV-Gerät gewichen war. Erst ganz am Schluss tauchen die Ausgeschlossenen auf – die „ausgebeutetste Kraft der Menschheit“, schreibt Marcuse und beendet sein doch etwas eindimensionales Buch mit einem Walter-Benjamin-Zitat: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“

Das Buch wird nun 50 Jahre alt, was mit einer Neuauflage gefeiert wird. Außerdem lädt ein Marcuse-Fanclub zum Theorie-Musik-Theater-Abend auf ausgewählte Bühnen: Thomas Ebermann, Ex-Grüner, heute Publizist und Theatermacher, der Schauspieler Robert Stadlober, Andreas Spechtl von der Band Ja, Panik und eigentlich auch der Journalist Kristof Schreuf, der für die Tour aber ausfällt.

„Ich spüre die Luft vom anderen Planeten“, singen Spechtl und Stadlober (Ebermann hält sich rauchend im Hintergrund) mehrmals während der 90 Minuten. Wenn die Welt schon eine totale Katastrophe ist, sollte zumindest in der Kunst ein bisschen Freiheit aufschimmern. Lieder und nachgesprochene Zitate oder Interviews wechseln sich mit Archivbildern und Reden von Marcuse ab. Dazwischen Anekdoten aus dem Alltag kapitalistischer Integrationsarbeit wie vorgetragene Biografien ehemaliger Linker: von der K-Gruppe über den Anti-AKW-Ortsverein bis zum Pressesprecher einer Solarinitiative.

Q wie Queerfeminimus

Andreas Spechtl und Robert Stadlober sind ein schönes Team, doch auf Dauer kann das die ermüdende Gesamtmixtur nicht aufbrechen. Es könnte zwar ein Statement zur Möglichkeit der Veränderungen heute sein, aber wenn man ehrlich ist, bleibt das meiste einfach zu abstrakt und inhaltsarm. Fragen, wie etwa nach Herbert Marcuses Verhältnis zu Gewalt und Terrorismus, fühlen sich so weit weg an, dass man den Hauch der damaligen Revolte erst spürt, als Spechtl nach 70 Minuten erstmals ins Schlagzeug haut.

Dem Marcuse-Medley hätte ein Fokus gut getan – auf das, was er heute noch Konkretes zu sagen hat. Das steht eher in dem Essay Repressive Toleranz, wo Marcuse schon 1965 beschreibt, wie die Meinungsfreiheit zu einem Deckmantel (aktuell: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen …“) der Reaktion geworden ist. Oder auch dort, wo der späte Marcuse den Feminismus als das „prekäre Bindeglied zwischen der Utopie und der Realität“ entdeckt. Von den Feministinnen hatte er gelernt, wie sehr der Kapitalismus auf die Dichotomie Mann-Frau angewiesen ist, und gleichzeitig, dass Freiheit nicht erst aus dem Reich der Kunst kommen muss, sondern in den Beziehungen der Individuen selbst begründet ist. Die Bücher zum androgynen Menschen findet man heute unter dem Stichwort Queerfeminismus.

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