„Worte reichen uns nicht, wir wollen Taten“

Porträt Assa Traoré will den Tod ihres Bruders aufklären, der im Polizeigewahrsam starb. Jetzt ist der Fall Chefsache – und sie eine Ikone
Ausgabe 25/2020
Assa hält die Geschwister zusammen, sagen die Traorés
Assa hält die Geschwister zusammen, sagen die Traorés

Foto: Andreas B. Krueger für der Freitag

Schwarz-weiße Papierschnipsel kleben auf der Steinfassade einer Vorschule. Von der gegenüberliegenden Straßenseite der Rue Louis Blanc, im 10. Pariser Arrondissement, kann man Gesichtszüge, zwei Augen in dem gigantischen Mosaik erkennen. Sie sehen trüb, fast leblos aus. Eine Wandfreske des französischen Street-Art-Künstlers JR, wenige Tage alt, sie erscheint wie die Kulisse einer modernen Tragödie.

Diesen Ort, nahe dem Gare du Nord, haben sich Assa Traoré und ihre Unterstützer ausgesucht, um an diesem Junitag ihre Stimme zu erheben. Wie so oft in den vergangenen vier Jahren. Aber dieses Mal ist alles anders. „C’est bien, c’est très bien“, sagt ein älterer Nachbar im Viertel, angelockt von der Menschentraube aus Kamerateams, Fotografen und Journalisten. „Die kämpfen schon so lange. Eine traurige Geschichte das alles.“ Dann richtet er seinen Fotoapparat auf die junge schwarze Frau im leuchtend blauen Mantel, die mit ihrem Auftreten und ihrer Schönheit auch andere Umstehende beeindruckt.

Sie nimmt an dem von schwarzen Tüchern verhüllten Tisch Platz, der für diese improvisierte Pressekonferenz unter freiem Himmel aufgestellt wurde. Links neben ihr sitzt Regisseur Ladj Ly, dessen Werk Les Misérables über Polizisten in Frankreichs Banlieues für die letzten Oscars nominiert war. Hier ist der Filmemacher nur Beiwerk. Die Aufmerksamkeit gehört Assa Traoré, und die traurige Geschichte, um die es geht, ist ihre Geschichte. „Der Fall Traoré“, der Tod ihres Halbbruders Adama, den die Familie für einen Mord hält.

Keine Zeugen

Es ist der 19. Juli 2016. An diesem Tag, seinem 24. Geburtstag, wird Adama Traoré in der Gemeinde Beaumont-sur-Oise im Pariser Umland von Gendarmen kontrolliert, in Begleitung eines anderen Mannes, der polizeilich gesucht wird. Adama Traoré, der bereits wegen kleinerer Delikte bekannt ist und eine Haftstrafe hinter sich hat, ergreift die Flucht. Kurz darauf wird er wieder gefasst und in Handschellen gelegt, entzieht sich erneut der Festnahme. Schließlich wird er in der Wohnung eines Bekannten gefunden und von drei Beamten fixiert, die später aussagen werden, es sei keineswegs brutal zugegangen – auch wenn Adama Traoré geklagt haben soll, er bekäme keine Luft. Wenig später stirbt er auf der Wache.

Da weder Videos und kaum Zeugenaussagen existieren, bleibt der genaue Ablauf ungewiss. Bislang wurden sechs Gutachten und Gegengutachten angefertigt, in denen entweder eine Herzvorerkrankung oder aber ein Erstickungstod in Folge der Festnahme als Todesursache aufgeführt wird. Fest steht: Keiner der beteiligten Beamten wurde bislang vor Gericht gestellt.

Im Juni 2020 stirbt George Floyd durch Polizeigewalt. Es gab Bilder der qualvollen Minuten seines Todeskampfes. Millionen Menschen weltweit konnten Anteil nehmen, gingen wütend auf die Straße.

Plötzlich gerät auch die Geschichte des Franzosen wieder ins Visier. Gibt es eine Chance für die „vérité et justice pour Adama“ (Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama)? Assa Traoré hat das gleichnamige Unterstützerkomitee gegründet, sie hat über Monate hinweg Demonstrationen und Solidaritätsmärsche organisiert, Spenden gesammelt, um die medizinischen Gutachten und Anwaltskosten zu bezahlen.

In dieser Zeit erfährt sie nicht nur Unterstützung aus der schwarzen Community, auch populäre weiße Intellektuelle wie Didier Eribon oder Édouard Louis machen sich für ihr Anliegen stark. Für sie müssen soziale Ungleichheit, Rassismus und Polizeigewalt zusammengesehen werden. Während der Gelbwesten-Proteste solidarisiert sich Assa Traorés Komitee mit den Gilets jaunes, als im Zuge der Proteste, die auf beiden Seiten von Gewalt geprägt waren, massive Polizeigewalt alltäglich wird.

Assa Traoré wird zu einer politischen Figur, auch wenn es ihr zuallererst um das Schicksal ihres Bruders geht. Es steht nur nicht mehr für sich allein. Zwei Bücher hat sie in der Zeit über ihren Kampf gegen die Justiz geschrieben, sie wird landesweit zu Podiumsdiskussionen eingeladen und hat kürzlich gemeinsam mit Angela Davis, der amerikanischen Bürgerrechtlerin und Black-Power-Aktivistin, ein Interview gegeben. Damals konnten Journalisten sich noch spontan mit Assa Traoré verabreden.

Das ist nicht mehr so einfach, seit sie jemand geworden ist, der abgeschottet werden muss. Sie schlägt Interviews aus, weil es jeden Tag mehr werden. Sie hat jetzt jemanden, der alles für sie organisiert. In nur wenigen Tagen wurde aus der Kämpferin in der hinteren Reihe, aus dem Vorort, eine Ikone, die in den Hauptnachrichten erscheint.

Ihre Geschwister beschreiben sie, die 35-jährige dreifache Mutter und ausgebildete Erzieherin, als bescheiden, besonnen, aber willensstark. Nicht nur in Ivry-sur-Seine südlich von Paris, wo sie mit ihrer Familie lebt, wird sie mittlerweile auf der Straße erkannt. Nachdem sie als Reaktion auf George Floyds Tod 40.000 Menschen zu einem Protestmarsch in Paris mobilisieren konnte, sind auch internationale Medien auf sie aufmerksam geworden.

Während der Pressekonferenz fragt ein italienischer Journalist, was für ein Mensch ihr Bruder gewesen sei. „Er mochte Fußball und ist sogar nach Italien gereist, um seine Lieblingsmannschaft zu sehen“, antwortet Assa Traoré – wohl wissend, dass sie auch gegen das schlechte Image ihrer Familie argumentieren muss, die von konservativen Medien noch immer als Kleinkriminelle mit Bandenstruktur gebrandmarkt wird. Ihren Heimatort Beaumont-sur-Oise soll die Familie regelrecht terrorisiert haben.

Die Anführerin

Tatsächlich sind einige der Traoré-Brüder schon früh mit der Polizei in Berührung gekommen, vier von ihnen müssen noch Haftstrafen absitzen, wegen Diebstahls, Drogenhandels oder Gewalt. Ihre Geschichte passt ins Klischee von französischen Vorstadtjugendlichen, von Parallelstrukturen, in denen nicht die gleichen Gesetze gelten wie im weißen, bürgerlichen Frankreich. Es ist komplexer, Schuld und Unschuld sind nicht so einfach zuzuweisen.

Da ist der Familienvater aus Mali, mit 46 Jahren verstorben, weil er als Baustellenchef jahrelang Asbest ausgesetzt war. Da sind seine vier Frauen, 17 Kinder und Dutzende Enkelkinder, die er zurücklässt. Und da ist Assa Traoré als mütterliche Anführerin, die ganz natürlich als neues Familienoberhaupt angesehen wird. Untereinander sprechen sie in der Familie neben Französisch auch Azayr, die Sprache der westafrikanischen Soninke, die überwiegend Muslime sind.

Assa hält die Geschwister zusammen, sagen die Traorés. Nimmt sich jedes ihrer Probleme zu Herzen und hilft, wenn nötig, mit ihrem bescheidenen Verdienst von 1.600 Euro. Die Rolle ihres Lebens findet sie mit dem Tod ihres Bruders Adama. „Wir sind unfreiwillig Soldaten geworden“, sagt sie heute, vier Jahre später. „Wir erleben eine weltweite Revolution, die Welt danach begann in Frankreich an diesem 2. Juni!“ Es war der Tag des großen Protestmarsches. Wieso das Komitee sich nicht mit anderen Bewegungen, besonders der Organisation SOS Racisme zusammenschließt, wollen französische Journalisten wissen.

Statt Assa Traoré greift einer ihrer Mitstreiter zum Mikrofon: „Den Fehler von 1983 werden wir nicht wiederholen. Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen!“ Es ist eine Anspielung auf den „Marche de Beurs“, die große Welle des Widerstands im Herbst 1983, nach dem Tod mehrerer maghrebinischer Jugendlicher – der Geburtsstunde der Anti-Rassismus-Bewegung in Frankreich.

Die Bewegung fiel auseinander, weil sie überwiegend von der sozialistischen Partei beansprucht und gezähmt wurde, zum Ärger der maghrebinischen Community, die sich verraten fühlte. Dieses Mal soll alles anders sein, die Wut, der Hass und die Entschlossenheit nicht durch ein paar politische Schönheitskorrekturen entkräftet werden.

„Wir haben keine Angst vor der Wahrheit über den Tod meines Bruders“, sagt Assa Traoré mehrmals vor den Journalisten. Der Fall ist inzwischen Chefsache. Präsident Macron hat seine Justizministerin beauftragt, die Akte Traoré neu zu prüfen, auch die französische Polizei steht zunehmend unter Beobachtung (siehe Kasten).

Assa Traoré hat die Avancen der Justizministerin abgelehnt. „Meine Familie wird keine Einladung der Justizministerin noch des Élysée-Palastes annehmen, bevor nicht der Staatsanwalt die Sache auf den Tisch bekommt. Worte reichen uns nicht, wir wollen Taten.“ Kein Treffen also, bevor es keine neuen rechtlichen Ermittlungen gibt.

Es geht ihr nicht mehr nur um Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama Traoré, sagt sie. Egal, ob es letztlich zu einer Verurteilung der Gendarmen kommt oder nicht, die am 19. Juli 2016 zu dritt auf Adama Traoré knieten – mit Assa Traoré gibt es nun eine telegene Figur, die ein neues Selbstvertrauen schwarzer, vor allen Dingen junger Franzosen verkörpert. Es wird ihnen vorgeworfen, sich nicht an Gesetze zu halten. Schon möglich.

Andersherum existiert neben der sozialen Schieflage in den Banlieues der Zorn, von der Polizei drangsaliert zu werden. Es ist nicht nur ein Gefühl. Nicolas Sarkozy sprach 2005 als Innenminister davon, die Vorstädte „mit dem Kärcher vom Gesindel zu befreien“. Der Hass auf den Staat und die Polizei entlädt sich, eine Spirale, wie der Film Die Wütenden eindringlich zeigt.

Assa Traoré steckt den Finger in diese alte Wunde einer Gesellschaft, in der Polizisten mehrheitlich die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen Partei wählen. In der Übergriffe und Tötungsdelikte, von Polizisten begangen, von einer Behörde innerhalb der Polizei geprüft werden und die Täter fast immer straffrei davonkommen. In der schwarze und arabischstämmige Franzosen Bürger zweiter Klasse sind. Assa Traoré ist ihre Stimme. Fragt sich nur, wie lange Frankreich sie hören will.

Adieu, Würgegriff ... und sonst

Der Würgegriff, im französischen Polizeijargon „clé d’étranglement“genannt, ist eine „Methode, die eine gewisse Gefahr mit sich bringt“ – gab Innenminister Christoph Castaner vor Kurzem bekannt. Der Ellbogengriff sei Polizeikräften in Frankreich in Zukunft verboten.

Eine andere Polizeimethode zur Kontrolle oder Festnahme Verdächtiger – das sogenannte „plaquage ventral“, die Fixierung auf dem Bauch, soll allerdings erlaubt bleiben. Dabei dürfen Polizisten ihr Knie nicht mehr auf den Nacken oder Hals der kontrollierten Person setzen, wie es bei dem Amerikaner George Floyd geschehen war.

Der Innenminister betonte, in Frankreich gebe es keinen „institutionalisierten Rassismus“ wie in den USA. Kurz darauf enthüllte das Online-Portal streetpress.com die Existenz einer FacebookGruppe aus 7.000 Polizisten, die in einem abgeschotteten Forum – unter satirischen Montagen – rassistische, sexistische und menschenfeindliche Nachrichten posteten. Eine zweite Facebook-Gruppe mit 9.000 Polizisten zog ebenfalls über Schwarze, Roma und Maghrebiner her. Die Polizeiaufsicht IGPN (Inspection générale de la Police nationale) gab bekannt, dass die Beschwerden wegen Polizeigewalt 2019 – dem Jahr der Gelbwesten-Proteste – um fast ein Viertel zugenommen hätten.

Untersuchungen des konservativen französischen Bürgerrechtsbeauftragten Jacques Toubon haben bereits 2017 ergeben, dass junge Männer, die „als Schwarze oder Araber wahrgenommen werden“, in Frankreich zwanzig Mal eher kontrolliert werden als andere. Dabei ist „racial profiling“, wie es in den USA heißt, auch in Frankreich verboten.

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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