Nähe

Kurzgeschichte Ein Spaziergang in der Pandemie

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Nun verlässt sie ihre Wohnung, macht alleine einen Spaziergang und erkundet ihre Nachbarschaft. So wandert sie durch die Straßen. „Guten Tag“, grüßt der Nachbar vom hohen Balkon. „Guten Tag“, grüßt sie zurück. Ein bisschen Small Talk, dann geht sie weiter. Um die Ecke trifft sie ihn, den Freund aus der nächsten Straße. „Hallo“, rief sie ihm zu. „Hallo“, sagte auch er. Sie traten ein Stück näher aneinander heran. Doch so, dass noch Raum und Luft zwischen ihnen war. Auf die Umarmung verzichteten sie. „Auch mal hier?“, fragte sie. „Ja“, entgegnete er. So wechselten sie ein paar Worte über die scheinbar ewige Zeit seit dem letzten Wiedersehen. Mit deutlicher Sprache sprachen die beiden. Ihre Worte sollten ja möglichst in Gänze gegenüber ankommen, nach dem Weg durch die Schichten aus Stoff vor ihren Gesichtern und dem Polster aus Luft zwischen ihnen hindurch. Sie waren erfüllt von einem ruhigen, aber doch schon fast euphorischen Stimmung, beste Freunde nach all dem wiederzusehen.
Nun kam eine ältere Dame mit ihrem Hund heraus. Die beiden traten voneinander und von der Frau weit zurück. Sie sollte schließlich genug Platz zum vorbeihuschen haben. So gingen die beiden ein Stück zusammen weiter, behielten dabei ihr schützendes Luftpolster. Auf der anderen Seite der Straße denn plötzlich noch ein Bekannter aus deren Kreisen. „Moin moin“, grüßten sie ihn. „Moin“, grüßte er noch von der anderen Seite zurück und gingen dann alle sofort wieder weiter. Bedauernd. Zu dritt zu spazieren, das geht doch jetzt nicht.
Die beiden kamen an seiner Wohnung vorbei. Er verabschiedete sich. Auf die Umarmung verzichteten sie. So ging sie weiter durch die Straßen. Platz war hier genug. Die Luft die war frisch. So ging sie weiter durch den stillen Nachmittag. Sie kreuzte die Hauptstraße während sie die stille und die Frische der Luft genoss.
Sie sah den Jungen von Gegenüber, wie er gerade die Einkäufe vor dem Hause nebenan abstellte, schellte und Heim ging. Der ältere Herr öffnete, nahm die Einkäufe, rief einmal „Danke“ und zog sich mit einem Lächeln in seine Wohnung zurück.
Auch sie betrat ihre Wohnung mit einem Lächeln, wissend was sich hier nun verändert. Diese fürsorgliche Nähe, mit der sich nun alle begegnen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lion Rudi

politisch aktiv mit vielen Ideen (die wenigsten zu Papier gebracht; die allerwenigsten umgesetzt)

Lion Rudi

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