Was Nachhaltigkeit (in der Politik) bedeutet

Ethik Über formale Prinzipien guter Entscheidungen

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„Die Politik handelt doch sowieso nicht nachhaltig“ – das ist ein regelmäßig gegen die Politik erhobener Vorwurf, der beinah schon den Status einer allgemein anerkannten Wahrheit eingenommen hat. Ich meine, dass dieser Vorwurf oft zu Recht geäußert wird. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was Nachhaltigkeit – dieses Wort, das heutzutage für fast alles verwendet wird – eigentlich genau bedeutet. Dann wird nämlich klar, dass die Politik häufig nicht nur inhaltlich ein Nachhaltigkeitsdefizit aufweist, sondern besonders durch ihren Stil die langfristige Tragbarkeit unseres demokratischen Gemeinwesens gefährden kann.

Was also heißt Nachhaltigkeit eigentlich? Vor allem in einem Kontext hat das Wort in den letzten Jahren seine große öffentliche Präsenz gewonnen. Anhand dieses politischen Problemfeldes werde ich nun meinen Vorschlag für eine genauere Bestimmung von Nachhaltigkeit darlegen: Die menschengemachte Erderwärmung und seine Auswirkungen – Stichwort „Klimakrise“ – haben dank des Engagements von Fridays for Future und jahrzehntelanger Öffentlichkeitsarbeit von Aktivistinnen und Aktivisten endgültig deutlich gemacht, dass eine kohlenstoffbasierte Wirtschaftsweise langfristig das Wohl von Mensch und Umwelt gefährdet. Das in Öl, Gas und Kohle gebundene CO2 in großen Mengen in die Atmosphäre zu entlassen, gefährdet die Grundlagen menschlichen und anderen Lebens auf der Erde, weil es vielfach Öko- und Klimasysteme aus einem prekären Gleichgewicht bringt. Was daran ist aber genau der nicht nachhaltige Aspekt?

Erstens lässt die fossile Energieerzeugung die zeitliche Komponente von Nachhaltigkeit außer Acht. Die Voraussicht in der Zeit ist offensichtliches Hauptelement von Nachhaltigkeit. Handlungen müssen nicht nur heute funktionieren. Als im 19. Jahrhundert massenhaft begonnen wurde, Kohle zu verfeuern, hat das für das damalige „heute“ wunderbar funktioniert, das jetzige Niveau von Wohlstand und technischer Entwicklung, zumindest in der westlichen Welt, ist massiv getrieben durch fossile Energiegewinnung über einen Zeitraum von bald zwei Jahrhunderten. Auch für das damalig kurzfristige „morgen“ war Kohle eine gute Lösung. In der ganz langfristigen Perspektive aber eben nicht. Nachhaltigkeit bedeutet also, dass Handlungen nicht nur für heute funktionieren müssen, um gute Handlungen zu sein, sondern auch für morgen, in einer Woche, in einem Jahr und in 10 Jahren, sprich: für die gesamte (vorhersehbare) Zukunft. Im Falle der fossilen Energiegewinnung ist fairerweise zu sagen, dass schlicht lange die Wissensgrundlage fehlte, um diese Perspektive einnehmen zu können. Erst seit vergleichsweise „kurzer“ Zeit gibt es diese Möglichkeit – was nicht Versäumnisse, danach zu handeln, entschuldigt. An diesem Beispiel wird trotz dessen die zeitliche Komponente von Nachhaltigkeit besonders deutlich.

Zweitens beachtet die CO2-basierte Wirtschaftsweise nicht das, was ich die soziale Komponente von Nachhaltigkeit nennen möchte. Handlungen müssen eben nicht nur für Einzelne funktionieren. Menschen stehen in einem Verhältnis, man könnte auch sagen, in Be-ziehung, zu anderen Menschen und ihrer Umwelt. Was der einzelne tut, oder die Menschheit als „eine“ Menschheit tut, hat Auswirkungen auf andere Menschen oder die Umwelt der einen Menschheit. Anfangs – abgesehen von Ausnahmen wie besonders sichtbaren Problemen von Luftverschmutzung und elendigen Konditionen in Kohleminen – waren diese Zusammenhänge von fossilen Energieträgern nicht zu erkennen. Dennoch, so haben wir mit der Zeit gelernt, sind sie vorhanden. Das soziale Prinzip von Nachhaltigkeit lautet also: Nachhaltige Handlungen sind derart, dass sie nicht nur für mich oder die mir zurechenbare Gruppe gut sind, sondern auch für alle und alles andere, das zu mir in Beziehung steht.

Zusammengenommen behaupte ich also folgendes über Nachhaltigkeit: Nachhaltige Handlungen sind solche, die nicht nur heute, sondern auch morgen und in der absehbaren Zukunft funktionieren, sowie gleichzeitig solche, die nicht nur für mich, sondern auch für dich und alle mit mir in Beziehung stehende Menschen und Dinge (von Wert) funktionieren.

Ich behaupte zudem, dass die Idee der Nachhaltigkeit hier zwei generelle, formale Prinzipien von gutem Handeln, ja „Gut-Sein“ selbst, deutlich macht: Gut zu handeln hat erstens die formale Restriktion, dass mein Handeln für mich, meine Partnerin und Familie, meine Freunde und dich sowie für alle anderen auf mich Bezogenen gut sein muss, sowie zweitens, dass mein Handeln gut sein muss heute, morgen, in einem Jahr und für die gesamte vorhersehbare Zukunft. Die genannten Prinzipien können bezogen werden auf alle möglichen Bereiche; auf zwischenmenschliche Beziehungen, auf Ökonomie, Ökologie sowie Gesellschaft und Kultur. Als Handlungsmaxime formuliert lauten diese Prinzipien entsprechend: „Handle so, dass das, was du tust, heute und morgen und bis in alle Zeit funktioniert, und nicht nur für dich, sondern auch für alle und alles um dich herum“.

Diese Erkenntnis mag trivial erscheinen, es scheint mir aber mit Blick auf politisches Handeln von Vorteil zu sein, sich diese formalen Aspekte von Nachhaltigkeit einmal klar zu machen. Das ist der Fall, weil die Politik vielfach, gemessen an diesem Maßstab, nicht nachhaltig bzw. gut handelt; und zwar auf zwei Ebenen: Im Politikstil und in konkreten inhaltlichen Entscheidungen. Jeweils gibt es kurzfristige und egoistische Motive, die nachhaltig gutes Handeln verdrängen. Diese folgen der Logik des politischen Überlebens.

Ich beginne mit der offensichtlicheren Dimension, den inhaltlichen Entscheidungen von Politik. Nicht selten werden politische Entscheidungen getroffen, die nur einen Blick für heute, morgen und vielleicht noch einige wenige weitere Jahre haben. Beispiele dafür sind neben Klimapolitik auch Energie-, Verteidigungs-, Renten- und Gesundheitspolitik. Das liegt unter anderem daran, dass in der Politik dem eigenen politischen Überleben bzw. Erfolg zu großen Wert zugemessen wird. Entscheidungen, die für kurzfristige Zeiträume oder gar nur heute zu positiven Auswirkungen in der politischen Außenwahrnehmung führen, werden als attraktiver bewertet als Entscheidungen, deren inhaltlicher Wert langfristig hoch ist. Wenn etwa heute die Zumutungen einer ökologischen Transformation der deutschen Wirtschaftsweise vermieden werden auf Kosten der Zukunft, ist das in erster Linie der Fall, weil kurzfristige negative politische Rückwirkungen gefürchtet werden. Wer möchte schon als Minister dafür verantwortlich sein, dass der Wohlstand vieler Bürger drastisch beschnitten wird? Ein weiteres Beispiel wäre eine mögliche Laufzeitverlängerung oder Reaktivierung noch leistungsfähiger Atomkraftwerke – hier wird die Strafe öffentlicher Ablehnung ebenfalls mehr gefürchtet als die Folgen einer langfristigen Zwickmühle zwischen Energieversorgung und Klimaschutz. Wie in beiden Beispielfällen langfristig entschieden wird, steht noch aus.

In Bezug auf Nachhaltigkeit ist neben der zeitlichen Komponente in der Politik, zweitens, der Politikstil relevant (die, wenn man so will, formale Seite der Politik). Hier ist etwas besonders Grundsätzliches gemeint: Wie heute Politik in Sprache und Stil von einzelnen politischen Entscheidungsträgern betrieben wird, beeinflusst nicht nur diese einzelne Person heute, sondern alle anderen Personen, die in der Politik unterwegs sind heute, morgen und in 10 Jahren. Ebenso betroffen davon ist die gesamte Bevölkerung, die in Beziehung zur Politik steht. Wenn heute etwa eine Ministerin unehrlich kommuniziert, ein Minister krumme Deals verheimlicht zur Erreichung eines politischen Ziels oder irgendein Entscheidungsträger seine Fehler unter den Teppich kehrt, wird dadurch einerseits die heutige Art und Weise, Politik zu betreiben, negativ geprägt. Doch nicht nur das, die daraus folgenden negativen Auswirkungen etwa von Politikverdruss oder Vertrauensverlust in der Bevölkerung beziehen sich eben nicht nur auf die etwaige einzelne Politikerin, um deren Fehlverhalten es geht, sondern machen es auch allen anderen Politikerinnen und Politikern aktuell schwerer. Damit nicht genug: Die negativen Folgen wirken nicht nur heute, sondern auch morgen und in 10 Jahren nach.

Der Politik und allen involvierten Individuen sollte klar sein: Ihre Handlungen haben nicht nur Folgen für sich selbst und heute, sondern auch für andere und morgen. Verantwortung zu tragen, nachhaltig zu handeln, letztlich gut zu handeln bedeutet, diese Zusammenhänge zu beachten. Das ist offensichtlich auf der Ebene von inhaltlichen Entscheidungen, aber mindestens ebenso entscheidend auf der Ebene des Stils: Ob Politik morgen und in 10 Jahren, in einem Jahrhundert gar, weiterhin freiheitlich in einer Demokratie mit interessierten und Verantwortungsträgern gegenüber aufgeschlossenen Bürgerinnen und Bürgern möglich ist, hängt eben auch davon ab, wie Politik sich heute verhält. Das zu wissen und danach zu handeln bedeutet nachhaltiges, gutes Handeln. Kurzfristiges und allein auf das eigene oder parteipolitische Interesse rücksichtnehmendes Verhalten ist das Gegenteil von nachhaltig.

Das heute so häufig verwendete Wort Nachhaltigkeit beinhaltet also zwei formale Prinzipien guten Handelns: Gut heißt, dass etwas heute, morgen und für die vorhersehbare Zukunft sowie für mich, dich, meinen Nachbarn und eben auch den Arbeiter in irgendeiner weit entfernten Seltene-Erden-Mine auf der anderen Seite der Welt funktioniert.

Ist das nicht aber ein viel zu hoher ethischer Anspruch, sowohl privat als auch politisch? Ja, es ist ein hoher Anspruch, denn es ist ein ethisches Ideal. Ideale aber sind nicht dazu da, sie perfekt erfüllen zu müssen. Sie sind vielmehr Ziele, auf die man sich zubewegt. Es ist dabei nicht möglich, sich nicht die Hände schmutzig zu machen – sich darüber im Klaren zu sein, ist ebenso nötig wie die Klarheit über das Ideal selbst. Aber wer nicht weiß, wohin er will, kommt noch vielmehr vom Weg ab als derjenige, der wenigstens eine Richtung vor Augen hat. Erinnern wir uns privat und politisch also an die ethische Richtung, die die Idee der Nachhaltigkeit in sich trägt.

„Handle so, dass das, was du tust, heute, morgen und bis in alle Zeit funktioniert, und zwar nicht nur für dich, sondern auch für alle und Alles in Beziehung zu dir.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukas Fiege

Attempto. Ich lerne, zu schreiben. Themen: Philosophie, Politik, Zeitgeist.

Lukas Fiege

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