Von null auf Hymne

Hip-Hop Was uns Kendrick Lamar, der Bildungsrapper, auf seinem neuen Album „Damn.“ beibringt
Ausgabe 16/2017
Lamar kämpft sich in Kung-Fu-Optik durch "Damn."
Lamar kämpft sich in Kung-Fu-Optik durch "Damn."

Foto: Christopher Polk/Getty Images for Coachella

Sonntagabend in Brooklyn, im Viertel Bed-Stuy, dem Hip-Hop-Headquarter. Von der Straße schwallt alle paar Autos der gleiche Sound hoch in den zweiten Stock. Damn., Kendrick Lamars neues Album, das der Rapper aus Compton, Kalifornien, dem Headquarter an der Westküste, in der Nacht zu Karfreitag veröffentlicht hat. Jesus musste sich das Osterwochenende mit Kendrick teilen, von null auf Hymne in 72 Stunden.

Sonntagabend im Internet. Im Minutentakt prasseln die Kritiken herein, Kendrick allgegenwärtig, seine neue Musik wird von Hobby- und Profihörern auseinandergeschraubt. Doch längst nicht alle sprechen über Damn. (Cover: rote Schrift, depressiver Blick), immer mehr labern von Nation.. Gerüchte darüber, dass ein zweites Album am Ostersonntag folgen könnte, gab es seit Tagen. Mittlerweile kursieren auch ein Cover (blaue Schrift, skeptischer Blick) und eine Titelliste, nur der Sound dazu fehlt. Von fakes sprechen die einen, von leaks die anderen. Als wären wir, die gierigen Konsumenten, schneller unterwegs als die Musik selbst, aber so hochtourig, dass der Motor kurz vorm Abmurksen ist.

Der französische Philosoph Paul Virilio befasste sich in den 1970ern mit Geschwindigkeit als Machtfaktor. Der Erfinder der Dromologie prognostizierte das Endstadium der Beschleunigung, eine Art kollektive Selbstblockade, er nannte es „rasenden Stillstand“.

Ein bisschen fühlten sich so die vergangenen Tage und Wochen für Kendrick-Fans an. Am 23. März ließ er mit der Single The Heart Part IV die Welt wissen: „Y’all got ’til April the 7th to get y’all shit together.“ Eine Woche später folgte die Single Humble., dann verkündete der Rapper, das Album komme am 14. April. Und ehe das geschah, schwebte schon das ominöse Nachfolgealbum wie ein ungeborener Geist herum. PR nennt sich das, nichts Neues, und doch wurde rund um dieses Album in einem solchen Tempo mystifiziert, dass Formalien den Inhalt verdrängten. Das Meisterstück wirkte bereits vor Erscheinung überholt. Der Autor Mychal Denzel Smith schrieb am Freitagabend auf Facebook: „Gonna be listening to this new Kendrick until the end of the world. So, like, monday?“

Nein, die Welt ist nicht untergegangen, erst recht nicht Kendricks Welt, zu gut ist Damn. 14 Titel und ein Überthema: sein Glauben. Der bald 30-jährige Rapper, der sich zu Halloween 2014 als Jesus Christus verkleidete, zitiert aus der Bibel, beschäftigt sich mit den Todsünden (Lust. und Pride.). Während sein 2015er Album To Pimp a Butterfly ein Jazz-durchflutetes politisches Statement war, ist Damn. mehr Selbsttherapie mit reduziertem Oldschool-Sound. Und unsere Sünde? Ist wohl die Völlerei.

Zuletzt wurde gemutmaßt, ob er Nation. auf dem Coachella-Festival in der Nacht zu Montag enthüllen werde. Doch all die spekulativen Artikel waren umsonst, all die Energien verschwendet, was für eine lähmende Ablenkung – Interpretationskoma. Kendrick kämpfte sich als Schlussakt in Kung-Fu-Optik durch Damn., dazu performte er ältere Hits, unter anderem Backseat Freestyle, in dem es heißt: „I pray my dick get big as the Eiffel Tower. So I can fuck the world for seventy-two hours.“

Die New York Times nannte eines seiner früheren Werke neulich ein „Bildungsalbum“. Was bringt uns Kendrick, der Bildungsrapper, auf Damn. bei? „Be humble, sit down!“ Sei bescheiden, setz dich.

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Damn. Kendrick Lamar Universal

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