Vater Staat und Mutter Vorsicht

Essay Erst Corona, dann das Klima, jetzt die Reichsbürger: Mit den Krisen unserer Zeit entsteht auch ein neuer Trend zum Paternalismus. Der jedoch ist mit dem Grundgedanken der Demokratie unvereinbar

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Anmerkung: Dieser Blog und alle anderen Beiträge des Autors sind ab sofort zu finden unter: diehydra.substack.com

Wie wäre es mit einer Textaufgabe:

Am 28. Oktober 2020 sagt der SPD-Politiker und heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach der „Rheinischen Post“, die Unverletzbarkeit der Wohnung dürfe kein Argument mehr für ausbleibende Corona-Kontrollen sein: „Wenn private Feiern in Wohnungen und Häusern die öffentliche Gesundheit und damit die Sicherheit gefährden, müssen Behörden einschreiten können.“

Am 14. Oktober 2022 heißt es im DLF-Medienpodcast „Nach Redaktionsschluss“, mit Brigitte Baetz, Silvia Haas und Heike Janssen, Journalisten sollten das negativ aufgeladene Wort „Verzicht“ vermeiden, wenn sie über Klimaschutz berichten, um der Bevölkerung die Einschränkungen für einen guten Zweck nicht madig zu machen.

Am 7. Dezember 2022 verteidigt die Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Gespräch mit Sandra Maischberger ihre Pläne für eine Beweislastumkehr für mutmaßliche Demokratiefeinde im öffentlichen Dienst: Eine „gute Idee“ sei es, das Disziplinarrecht so umzustellen, dass verdächtigte Beamte auch ohne Beweise mittels eines einfachen Verwaltungsaktes gekündigt werden könnten.

Wie hängen die drei Fälle zusammen?

Um diese Frage zu beantworten, müsste man zunächst feststellen, worin die Gemeinsamkeit der Aussagen liegt. Um es kurz zu machen: Alle drei werfen demokratische Prinzipien über den Haufen.

Im ersten Fall, bei der Aussage Karl Lauterbachs, ist der Grenzübertritt noch relativ einfach zu durchschauen. Das über Bord geworfene Prinzip ist hier der fast wörtlich zitierte Artikel 13 des Grundgesetzes: „Die Wohnung ist unverletzlich“, heißt es in Absatz 1. Und obwohl es der Staat während der Pandemie mit demokratischen Prinzipien und Grundrechten ohnehin nicht so genau genommen hat, klang die Äußerung des Gesundheitspolitikers wohl übergriffig genug, um einen Shitstorm zu erzeugen, der Lauterbach noch am selben Tag zurückrudern ließ. Er lehne es ab, „dass Polizei oder Ordnungskräfte Wohnungen kontrollieren“, schrieb er auf Twitter, die Privatwohnung bleibe „voll geschützt“. Er habe sich nur missverständlich ausgedrückt.

Im Fall der DLF-Sendung ist die Prinzipienaufgabe schon etwas subtiler. Was die Gesprächspartner hier verwerfen, ist kein Gesetz, sondern eher ein Ideal – jedoch eines von enormer Wichtigkeit für den demokratischen Journalismus: das der unvoreingenommenen Berichterstattung. Gerne wird hierzu der verstorbene Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs zitiert, der das Prinzip in einem berühmten Satz zusammengefasst hat: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Die Aufgabe des Journalisten ist zu informieren, Zusammenhänge herzustellen, kritische Fragen zu stellen und damit den Bürger zu einer eigenen, informierten Sicht auf die Welt zu ermächtigen. Damit die zustande kommt, müssen Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit gewahrt werden. Sonst wird die Sicht des Bürgers verzerrt durch die des Redakteurs, der nur vorgefilterte Informationen bereitgestellt hat.

Nun könnte man einwenden, dass völlige Unvoreingenommenheit sowieso unmöglich ist – und das mit Recht. Doch indem man sie als Ideal anstrebt, kann man ihr zumindest nahe kommen. Was passiert dagegen, wenn ausgerechnet Journalisten – und dann auch noch welche, die von öffentlichen Geldern leben – zu dem Schluss kommen, dass Unvoreingenommenheit in Krisenzeiten dem guten Zweck im Weg steht? Dann verkommt der Journalismus zum Aktivismus; die vierte Gewalt zerbröckelt unter dem persönlichen politischen Engagement ihrer Torhüter.

Während solche journalistischen Ideale noch vergleichsweise jung sind, schafft sich Nancy Faeser mit ihrer geplanten Beweislastumkehr einen Grundsatz vom Hals, der in den Gesetzestexten fast jeder Demokratie in irgendeiner Form auftaucht und schon Ankläger im alten Rom um ihren Rechtsspruch brachte: „In dubio pro reo“ – auf Deutsch: Im Zweifel für den Angeklagten. Zwar hat der „Zweifelssatz“ auch im deutschen Recht seine Entsprechungen. Der eigentliche Skandal ist aber weniger die Verkehrung einer Rechtsnorm als vielmehr die Tatsache, dass sich die Innenministerin einer westlichen Demokratie im 21. Jahrhundert für eine Wiederbelebung der alten Hexenprozess-Logik stark macht: Beweise uns, dass du kein Extremist bist, und wir werden dich nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

Das Perfide an dieser Logik liegt einerseits in der Schwammigkeit von Begriffen wie „Extremismus“ oder „Demokratiefeindschaft“. Ab wann genau ist eine Meinung so radikal, dass sie als extremistisch eingestuft wird? Die Abgrenzung dürfte gerade heute, da der inflationäre Gebrauch solcher Stempel zur Diffamierung politischer Gegner zur Debatte gehört wie das Amen zum Gebet, starken Schwankungen unterliegen. Andererseits ist es auch schwierig – wenn nicht gar unmöglich –, einen Beweis für das Nicht-Vorhandensein demokratiefeindlicher Gedanken vorzulegen. Angenommen, ein Polizist wird wegen Verdachts auf Rechtsextremismus aus dem Dienst entfernt. Welchen Beweis könnte er für seine Unschuld erbringen? Das Grundgesetz aufsagen? Den Wahl-O-Mat machen?

Das Missbrauchspotential dieser Logik ist so enorm, die sich daraus ergebenden Werkzeuge zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen so gefährlich, dass man sich fragen muss: Strebt die Innenministerin solche totalitären Strukturen gezielt an oder ist sie einfach nicht in der Lage, das Problematische daran zu erkennen?

Da wäre das eine so erschreckend wie das andere.

Aber zurück zu unserer Textaufgabe: Wo ist bei all dem der Zusammenhang? Immerhin könnte man einwerfen, dass es sich mit den menschlichen Prinzipien ein bisschen so verhält wie mit der Henne und dem Ei: Niemand kann so recht sagen, was zuerst da war – das Prinzip oder die Bereitschaft, es über Bord zu werfen. Allerdings handelt es sich hier um drei Beispiele für ein Welt- und Menschenbild, das in den letzten Jahren immer mehr Zuspruch zu bekommen scheint. Man könnte sogar von einem Paradigmenwechsel sprechen: vom Verständnis der Bevölkerung als Gruppe aufgeklärter, mündiger Individuen hin zu der Grundannahme, der Bürger sei unselbstständig und beeinflussbar, müsse erzogen, kontrolliert, geführt werden. Was wir erleben, ist die Entwicklung hin zu einem neuen Paternalismus.

Die stellt uns allerdings vor ein Problem. Nämlich beißt sich das Bild des unmündigen, unselbstständigen Bürgers fürchterlich mit dem Grundgedanken der Demokratie. Wie der Name schon sagt (das Wort „Demokratie“ steht im Altgriechischen für „Volksherrschaft“), basiert sie auf der Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung. Nur warum in aller Welt sollte man das Volk teilhaben lassen, wenn es aus einem Haufen unmündiger Kinder besteht?

Wobei dieser Vergleich den Kindern Unrecht tut. Immerhin sind sogar Kinder schon in der Lage, die Regeln eines Spiels zu begreifen und zu befolgen. Im Grunde kann auch unsere demokratische Gesellschaft als ein Spiel verstanden werden – und wie jedes Spiel funktioniert auch die Demokratie nur dann, wenn sich jeder an die Regeln hält und die ihm zugeteilte Rolle spielt. Was aber, wenn die Spieler ihre Rolle verkennen und die Regeln brechen? Wenn journalistische Medien anfangen, sich explizit für politische Ziele einzusetzen, und dafür die Berichterstattung verzerren? Wenn Politiker gröbste Verfassungsbrüche und Grundrechtsverletzungen mit einer angeblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit rechtfertigen?

Was, wenn der Bürger all das klaglos hinnimmt?

Dann ist die Infantilisierung der Bevölkerung durch Politik und Medien wohl erfolgreich gewesen: Der Bürger hat sich seine Machtlosigkeit einreden lassen.

Wenn all das zur Selbstverständlichkeit wird, bricht die Demokratie zusammen. Wie ein Fußballspiel, bei dem die Spieler den Ball irgendwann einfach aufheben und werfen, weil sie mit Schüssen und Kopfbällen nicht weiterkommen.

Der große Fehlschluss ist der, dass unsere Grundsätze in Zeiten der Krise auch mal übergangen werden müssen. Er äußert sich in den Ausgangssperren und Kontaktverboten während der Pandemie, die sogar dann noch verhängt wurden, als ihre Nutzlosigkeit zur Eindämmung des Infektionsgeschehens schon erwiesen war. Die Entmündigung der Bürger ging hier so weit, dass uns der erzwungene Freiheitsentzug als „Solidarität“ verkauft wurde – ein inzwischen völlig sinnentleerter Begriff, der ursprünglich einmal eine freiwillige Handlung bezeichnet hat. Der Irrtum äußert sich auch in den Allüren von bekannten Klimaaktivisten, die der Meinung sind, für eine demokratische Vorgehensweise bleibe uns leider keine Zeit mehr, wenn wir die Welt retten wollen. Was diese Leute nicht begreifen: Der eigentliche Wert von Prinzipien zeigt sich erst dann, wenn es verlockend wäre, sie zu missachten. Dazu ist eine demokratische Verfassung ja da – auch in der Krise standzuhalten und nicht nur dann, wenn alles rosig aussieht. Immerhin braucht man Grundrechte, die nicht angegriffen werden, auch nicht groß zu verteidigen. Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte; sie spielen erst dann wirklich eine Rolle, wenn jemand versucht, sie außer Kraft zu setzen. Grundrechte, die aber einmal außer Kraft gesetzt wurden, sind für immer außer Kraft gesetzt. Ein Versprechen zeichnet sich dadurch aus, dass man es hält.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Gerade die Deutschen gehen lieber auf Nummer sicher und kontrollieren und regulieren eher einmal zu viel als einen unvorhergesehenen Regelbruch zu riskieren. Mehr Kontrollen, mehr Überwachung, mehr Einschränkungen – das scheint besonders im Licht der Reichsbürger-Razzia von vergangener Woche (7. Dezember) das Gebot der Stunde zu sein. Bei der pauschalen Gleichsetzung und Vermengung eigentlich verschiedener Gruppen (bei denen es aber sicherlich eine gewisse Schnittmenge gibt) wie den Reichsbürgern, den Querdenkern, der AfD, den Ungeimpften et cetera bekommt man ja schon das Gefühl, die Bevölkerung bestehe nicht bloß aus unselbstständigen Kindern, sondern zur Hälfte auch noch aus gefährlichen Extremisten. Und es könnte jeder sein! Mit diesem Narrativ lassen sich viele Repressionen rechtfertigen.

Natürlich soll die Gefahr durch gewaltbereite Extremisten damit auf keinen Fall relativiert werden. Erstens jedoch ist der absolute Großteil der Bevölkerung nicht extremistisch veranlagt. Und zweitens müssen wir zum Wohl der Demokratie auch noch an ganz anderer Stelle Vorsicht walten lassen. Denn wenn wir zulassen, dass im Kampf gegen Extremismus der Zweck die Mittel heiligt und demokratische Grundsätze beiseite geschoben werden, beschädigen wir unsere Demokratie womöglich durch genau die Vorgehensweise, mit der wir sie eigentlich zu schützen gedachten.

Übrigens gibt es noch eine andere Gemeinsamkeit zwischen den drei eingangs genannten Fällen. Nicht nur Lauterbach, sondern auch Faeser ist zurückgerudert, nachdem sie für ihre Pläne zur Beweislastumkehr öffentliche Empörung geerntet hat. Das DLF-Gespräch wurde indes von allen Plattformen entfernt. Der Grund dafür ist zwar unbekannt, aber vielleicht haben die Verantwortlichen auch hier erst einen Weckruf durch das Publikum gebraucht, um zu begreifen, was sie da eigentlich von sich geben. Es hat fast den Anschein, als müssten die ach so unmündigen Bürger den angeblichen Schützern der Demokratie ihre eigenen Prinzipien erklären. Die Teilhabe des Volkes funktioniert wohl doch ganz gut.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukas Koperek

Geboren in Essen. Spät zum Lesen und früh zum Schreiben gekommen. Beiträge ab sofort unter: diehydra.substack.com

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden