Ist Deutschland ein „antilinkes“ Land?

Ideologie Ist Deutschland "antilinks" oder gar "linksfeindlich"? Oder - im Vergleich zu anderen Ländern - doch linker als die meisten europäischen Nachbarn?

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Vor sieben Monaten hat in der „Freitag Community“ der Autor Red Bavarian – bezugnehmend auf die Wahlergebnisse „Der Linken“ bei der Niedersachsen-Landtagswahl – gemeint, Deutschland sei „von jeher ein antilinkes Land“ (https://www.freitag.de/autoren/denihilonihilfit/left-forever).

Dem habe ich klar widersprochen, der Autor und ich wurden uns zumindest darin einig, daß es nicht verwundert, wenn wir beide verschiedene Sichtweisen haben: Er berichtete von seinen politischen Erfahrungen aus Bayern (Nürnberg, Fürth), ich bezog mich auf meine unmittelbare berlinische Umgebung – und die war und ist Kreuzberg und der Südosten der Stadt. Hier reicht schon der Blick auf die Panorama der Wahlplakate (ganz zu schweigen von Graffitis, Demonstrationen, Wahlergebnissen oder Stammtischdiskussionen) um festzustellen, daß wir beinahe in zwei verschiedenen Welten leben.

In meiner Argumentation, daß Deutschland keinesfalls ein „antilinkes“ Land sei, bezog ich mich jedoch vor allem auf meine Erfahrungen und Beobachtungen aus anderen Ländern. Dieses Thema möchte ich hier ausführen, wobei ich glaube, daß es genügt, sich bei meinen Vergleichen nicht auf die ganze Welt, sondern nur auf Europa zu beziehen. Dabei möchte ich absichtlich nicht in die Mega-Diskussion abrutschen, „Was denn links sei?“ - denn da würden selbst Ideologen der linken Splitterparteien wie MLPD und DKP wohl wochenlang streiten können. Ebenso wenig möchte ich untersuchen, ob Deutschland und andere Länder gegenwärtig mehr oder weniger „links“ seien als noch vor 20 oder 40 Jahren. Es geht mir um den europäischen Vergleich, ja, des „politischen Mainstreams“.

Der erste Blick und der erste Vergleich bezieht sich auf mein Heimatland – Polen. Zuerst die Parteienlandschaft: zwei „rechte“ Parteien dominieren seit Jahren, ähnlich wie in Irland, die politische Szene, die konservativ-liberale „Bürgerplattform“ (Tusk) und die nationalkonservative „Recht und Gerechtigkeit“ (Kaczynski). Die einzige halbwegs „linke“ Gruppierung, die aus der ehemaligen kommunistischen Arbeiterpartei entstammende SLD, dümpelt wenn es hoch kommt bei 10%. Keine Änderung in Sicht. Aber auch im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs ist „das Linke“ kaum vorhanden oder im Vergleich zu Deutschland stark zurückgedrängt (oder, für Optimisten: „ausbaufähig“). Egal ob es sich um Arbeitnehmer- oder Homosexuellen-Rechte handelt, ob um das Verhältnis zu USA und den Kriegseinsätzen oder bei sozialer Unterstützung für Rentner oder Eltern handelt: aus polnischer Perspektive ist der deutsche politischer Mainstream, inklusive der CDU und CSU, durchaus „linker“ als die erwähnte SLD. Nicht viel anders sieht es bei dem Thema einer kritischen Geschichtsaufarbeitung aus. Ein anderes praktisches Beispiel konnte ich vor einigen Wochen an eigener Haut erfahren (zum Glück war Sommer...): In Polen wird jedem, der seine Strom- oder Gas-Rechnung nicht innerhalb einer Frist bezahlt (je nach Anbieter wenige Wochen bis drei Monate) einfach die Energie-Lieferung abgeschaltet. In Deutschland bis auf Ausnahmefälle fast undenkbar – egal ob man einen Verfassungsrichter oder einen Nachbar dazu befragt.

Aber genug von meiner Heimat. Auch wenn ich mir viele andere europäische Länder ansehe, sieht im Vergleich Deutschland gar nicht so „linksfeindlich“ aus – ob bei wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen. Für viele Europäer ist zum Beispiel die hierzulande heftig kritisierte Hartz-4-Regelung und -Praxis keine Schikane, sondern mutet gar paradiesisch an: Der Staat zahlt einem Erwerbslosen seine Miete incl. Strom & Heizung, dazu noch über 300 Euro, gar werden Fernseher oder andere Gadgets als „lebensnotwendig“ betrachtet – und somit deren Kosten gedeckt. Dafür muss man bloß ein paar Formulare ausfüllen und sich dann regelmäßig beim Jobcenter „melden“. Eine solche Beschreibung und Sichtweise des Hartz-4 klingt für Betroffene in Deutschland als Hohn und pure Demagogie – aber viele Briten oder Spanier, von Bulgaren und Griechen zu schweigen, wären froh darüber, und für sie ist es ein Hohn, dass man sich darüber noch beschweren kann. Denn europäisch gesehen – mit Ausnahme von skandinavischen Ländern und vielleicht den Niederlanden – ist generell der Standard der Sozialhilfen (AL, Sozialhilfe, Eltern- und Kindergeld, Rentensystem) in Deutschland üppiger als in den meisten anderen Ländern – und somit „linker“. Bis auf einige „Meldungen“ der FDP („spätrömische Dekadenz“, „Privat vor Staat“) würde sich in Deutschland auch kaum ein Politiker trauen, die Senkung dieser sozialen Standards oder zum Beispiel der Arbeitnehmer rechte zu fordern. Klar, es wird gemacht, doch eher „still und leise“. Gleichzeitig kenne ich es nur aus Deutschland, daß man von Vorständen der größten AGs erwartet und medial fordert, sie müssten ihre "gesellschaftliche Verantwortung" bekennen (Wer an deren schöne Worte glaubt...).

Es gibt sicherlich Länder, die in einigen Punkten „linker“ als Deutschland sind. So ist Frankreich, ebenso wie Italien, berühmt für die Streikbereitschaft und für die Macht der Gewerkschaften. Ebenso gilt dieses Land als „laizistischer“ als viele andere. Gleichzeitig ist eben dieses Frankreich viel nationalistischer (auch wenn man es „Patriotismus“ oder „Nationalstolz“ nennt) als Deutschland. Und im Vergleich zu Italien ist zum Beispiel die deutsche Medienlandschaft (nicht nur Presse, vor allem auch TV) viel „linker“. Zu hoffen ist auch, dass es in Deutschland keine Partei schafft, Erfolge wie „Front National“, „Alleanza Nationale“ oder „Lega Nord“ zu feiern.

Oder wie bei den österreichischen Nachbarn die FPÖ (ob unter Haider oder Strache). Das Land wird zwar bis auf eine kurze Unterbrechung seit fast 40 Jahren jeweils von einem sozialdemokratischen Kanzler regiert – dennoch weitet sich der Einfluß der FPÖ-Ideologie weit in die beiden anderen, traditionellen Großparteien SPÖ und ÖVP aus – sogar die österreichischen Gewerkschaften klangen oft wie ein (gemäßigtes) Haider-Sprachrohr. Läßt man die Innerbezirke von Wien außen vor – ist Österreich aus meiner Sicht noch „antilinker“ als Red Bavarians Fürth und Nürnberg.

Großbritannien? Thatcher - Major - Blair - Brown - Cameron.

Spanien? Heilige Inquisition.

Was bleibt noch, außer Skandinavien und den Niederlanden, als Beispiele von Ländern, die „linker“ seien als Deutschland? Weißrussland? Moldawien? Am ehesten noch Bosnien-Herzegowina, wo in breiten Teilen der Bevölkerung – auch wenn abnehmend weil absterbend – der „linke Banner“ in Form der Tito-Erinnerung hoch gehalten wird. Das meine ich keineswegs ironisch: Gerade durch die Erfahrungen des Bürgerkriegs, der Nationalismen, und dem danach folgenden „Chaos“ der „Demokratie“ und „freier Wirtschaft“ (gleichzeitig eingeschränkter Reisefreiheit als zu jugoslawischen Zeiten) scheint vielen in Bosnien Titos Wirken und Programm als die bessere Alternative zu allem, was nach 1991 geschah.

Natürlich, nicht nur im Falle Bosniens, sondern des ganzen Kontinents läßt sich feststellen – ob es jemanden freut oder verbittert – daß im Allgemeinen, vor allem was die wirtschaftlichen Aspekte angeht – Europa im Jahre 2013 weniger „links“ zu sein scheint als noch 1973. Und auch hier würde ich sagen, daß trotz aller Veränderungen der letzten 30 Jahre – Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern (wenn man den s.g. „Ostblock“ mal weglässt) im Jahre 2013 „weniger antilinks“ sei als 1970.

Zurück zu meiner Heimat: Nicht wenige – vor allem Sympathisanten von „Recht und Gerechtigkeit“ - würden meiner These vom „im allgemeinen weniger linken Europa als 1970“ heftig widersprechen. Sie würden meinen, Europa wurde seitdem und entwickelt sich zu sehr „links“: ob im Falle der „allmächtigen“ EU-Bürokratie („Sozialismus“ - von Agrarsubventionen bis zur Glühbirne), bei gesellschaftlichen Themen (Homosexuellen-Ehe, Vatikan-Kritik) oder bei Umweltfragen (CO2-Beschränkungen, und nochmals Glühbirne...). Und Juan Manuel Barroso sei ja ohnehin ein (ehemaliger) Kommunist.

Ich bleib dennoch dabei: Deutschland ist vergleichsweise nicht „antilinker“ als andere Länder, eher im Gegenteil, während Europa als ganzes „linksfeindlicher“ wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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