1937: Gebrochene Hände

Zeitgeschichte In München öffnen fast gleichzeitig zwei Ausstellungen. In der einen wird „deutsche“, in der anderen „entartete“ Kunst gezeigt, die für alle Zeit verbannt sein soll
Ausgabe 27/2017

Die Propheten und Geldwechsler, die Seejungfrauen, die Wellentänzerin, die Gaukler vom Jahrmarkt und die Hausierer mit dem Handkarren, die Apostel und Kobolde in Möwengestalt – all die Kreaturen des Malers Max Ludwig Nansen kann es schnell und für immer dahinraffen. Ihrem Schöpfer soll im April 1943 das Malzeug aus der Hand geschlagen, die Staffelei verhängt, das Atelier verriegelt werden. Da künstlerische Fantasie nichts von dem zurücknehmen kann, was sie in die Welt entlassen hat, wird verbannt und geächtet, was dieser Welt missfällt. Zehn Jahre zuvor, am 10. Mai 1933, brannten in Berlin zwischen Hedwigskirche und Friedrich-Denkmal die Bücher von Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Ernst Glaeser, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Karl Kautsky und Karl Marx wie Ketzer auf einem Scheiterhaufen. Ist Gleiches den Bildern von Max Ludwig Nansen bestimmt? Soeben hat ihm der Ortspolizist Jens Jepsen schriftliche Order des Deutschen Reiches überbracht. Diese besagt: Gegen den Maler wird ab sofort ein Arbeitsverbot verhängt, das streng durchzusetzen ist.

Mit der Beschreibung dieser Anmaßung beginnt der 1968 erschienene Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz. Er führt mitten im Zweiten Weltkrieg in die Wattlandschaft an der Nordseeküste und zu Deutschlands nördlichstem Polizeiposten Rugbüll. Literarisches Vorbild für die Nansen-Geschichte ist das Schicksal des expressionistischen Künstlers Emil Nolde (1867-1956), dessen Gemälde die obersten Kulturwächter des NS-Staates zur „Asphaltkunst“ erklärt haben. „Diese vorgeschichtlichen prähistorischen Kultursteinzeitler und Kunststotterer mögen unseretwegen in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren, um dort ihre primitiven internationalen Kritzeleien anzubringen“, sagt Adolf Hitler am 18. Juli 1937, als er im Münchner Haus der Deutschen Kunst die Große Deutsche Kunstausstellung eröffnet. Dieser Leistungsschau ist zu entnehmen, was nicht unter das Stigma „Kulturzersetzung“, „Dilettantismus“ und „Verstiegenheit von Wahnsinnigen“ fällt. Es sind Gemälde, mit denen der romantisierende Kitsch einer heilen Bergwelt mit Hirsch und Edelweiß die Leinwand ebenso bevölkern darf wie Blut-und-Boden-Motive vom Bauern hinterm Pflug und der deutschen Mutter mit Kinderschar. Nicht zu vergessen die Skulpturen vom muskulösen Landser als germanischem Haudegen im Angriffsmodus. Je theatralischer, traditioneller und trivialer, desto „gottbegnadeter“ (Hitler). Es geht um faschistischen Heroenkult, dem die Kunst zu dienen hat, indem sie deutsche Geschichte als triumphale Saga eines Herren- und Herrschervolkes kolportiert – es geht um das Verhältnis von Kunst und Macht.

Weil solcherart Missionierung an die Wirkung des Kontrasts glaubt, dürfen die „Kultursteinzeitler und Kunststotterer“ noch nicht ganz „in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren“. Am 19. Juli 1937, einen Tag nach Hitlers Furor Teutonicus in Öl, Bronze und Granit wird in den Münchner Hofgartenarkaden eine andere Ausstellung eröffnet. Gezeigt werden etwa 650 Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Plastiken, die vom NS-Staat als „entartet“ diffamiert werden, darunter Emil Noldes Christus und die Sünderin, Paul Klees Villa R, Marc Chagalls Winter und Dorfszene, Franz Marcs Der Turm der blauen Pferde und Tierschicksale, Paula Modersohn-Beckers Knabe mit Katze sowie Alte Bäuerin, Ernst Barlachs Kopf des Güstrower Ehrenmals, Bilder von Oskar Kokoschka und Ludwig Meidner. Versammelt ist eine künstlerische Avantgarde, die aus Deutschland heraus- und den Deutschen ausgetrieben werden soll.

Die Volksgemeinschaft werde durch die Bilder Max Ludwig Nansens „vergiftet“, so begründet die Reichskammer der Bildenden Kunst das Malverbot, zitiert im Roman Deutschstunde der Ortspolizist Jepsen aus seiner Anweisung. Nansen entgegnet: „Ich weiß, … Gift mögen sie nicht. Aber ein bisschen Gift ist nötig – zur Klarheit.“ Und dann sei da noch die Farbe, die ja immer etwas zu erzählen habe. „Wer kennt schon die Farbe?“

Bevor dieses Gift ein mutmaßlich letztes Mal und zur Abschreckung versprüht werden darf, müssen 1937 Museen und Galerien wie die Nationalgalerie und das Kupferstichkabinett in Berlin herausgeben, was an moderner Kunst bei ihnen magaziniert, aber seit 1933 größtenteils nicht mehr zu sehen ist. In München dann wird so getan, als habe man Ladenhüter zu Auktion und Ausverkauf gebündelt. Die „entarteten“ Gemälde sind eng nebeneinander, übereinander, gegeneinander, teilweise sogar schräg gehängt. Auf Schock und Schändung kommt es an, weshalb an die Wände über den Kunstwerken höhnische Propagandatexte gepinselt sind. Bei Otto Dix liest man zu Bildern wie Die Kriegskrüppel und Schützengraben die Schriftbänder „Beschimpfung der deutschen Helden des Weltkrieges“ und „Offenbarung der jüdischen Rassenseele“. Bei Aktgemälden von Otto Mueller heißt es: „Verhöhnung der deutschen Frau – das Ideal, Kretin und Hure“. Am Eingang zu einem der Säle ist die Schmähung ausführlicher geraten: „Sie sagen es selbst, wir tun so, als ob wir Maler, Dichter oder sonst was wären, aber wir sind nur und nichts als mit Wollust frech. Wir setzen aus Frechheit einen riesigen Schwindel in die Welt und züchten Snobs, die uns die Stiefel lecken.“

Die Frechheiten der Wollüstigen locken allein in Bayern mehr als zwei Millionen Besucher an. Es kommen weitere zwei Millionen hinzu, als die „Entartete Kunst“ durch Deutschland wandert, über Berlin, Leipzig, Hamburg, Frankfurt/Main bis nach Dresden. Hitlers „wahre deutsche Kunst“ nehmen hingegen nur gut 600.000 Personen in Augenschein. Wie erklärt sich der Zuspruch für die Verfemten? Sicher hatte man es weder mit verkappten Verehrern von Nolde, Grosz, Dix oder Barlach noch deren verbissenen Verächtern zu tun. Außer der Aura des Verbotenen gab es wohl ein unterschwelliges oder klares Bewusstsein dafür, Gemälde, Grafiken und Plastiken noch einmal betrachten zu können, bevor sie für immer verschwanden, ins Ausland verkauft, unter Verschluss gehalten oder vernichtet sein würden.

Auch Ortspolizist Jepsen soll im Atelier auf Bleekenwarf beschlagnahmen, verpacken und zur Gestapo nach Husum schicken, was Max Ludwig Nansen in den letzten beiden Jahren gemalt hat. Jetzt also sind sie wirklich fällig, die Gaukler und Seejungfrauen, die kräftige Wellentänzerin. Als ob sich nicht herumgesprochen hätte, dass unerwünschte als unsichtbare Bilder herumgeistern. Dagegen habe es doch noch nie einen Schutz gegeben, raunt Nansen, „nicht durch Verbannen, auch nicht durch Blendung, und wenn sie die Hände abhacken ließen, hat man eben mit dem Mund weitergemalt“. Es wird nicht ausgesprochen, angedeutet aber schon: Nansens von der Ortpolizei geleerte Wände verbinden sich mit den gebrochenen Händen eines Tilman Riemenschneider, an denen sich die Barbarei einst schadlos hielt, als sie dem Verlangen nach Hass, Strafe und Qual nachgab.

Wenige Tage bevor in München Hitlers Kunstmesse und die Hofgartenarkaden mit der „Entarteten Kunst“ öffnen, wird am 12. Juli 1937 auf der Weltausstellung in Paris erstmals Pablo Picassos Gemälde Guernica öffentlich gezeigt. Entstanden nach dem Angriff der deutschen Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica während des spanischen Bürgerkrieges, enthält das Bild, in die Kantigkeit geometrischer Formen gebracht, zerschmetterte, zerschmolzene und verkohlte Körper, spitz aus toten Mündern ragende Zungen, gebrochene Augen, den gewendeten Kopf und peitschenden Schwanz eines Stiers, der den Menschen kein Schutz mehr sein konnte, als das Verderben über sie kam. Picasso lässt begreifen, was in Spanien geschieht. Und er verhilft dazu, in den gut proportionierten, zupackenden Armen der in München aufgestellten Krieger die abgerissenen Arme der Guernica-Toten zu erkennen. Und am 1. September 1939 wird man wissen, Otto Dix’ Kriegskrüppel sind alles andere als aus der Zeit gefallen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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