Winston Churchill ist eine Woche im Amt des britischen Regierungschefs, da erreicht ihn am Nachmittag des 15. Mai 1940 ein Anruf aus Paris. Premier Paul Reynaud klingt bestürzt. „Wir haben die Schlacht verloren. Die Front ist bei Sedan durchbrochen. Sie strömen mit großen Mengen Panzern und Panzerwagen durch unsere Linien.“ Seit dem 21. März 1940, seit Reynaud eine Mitte-rechts-Regierung führt, hat er Sorge getragen, dass von nun an jedes Appeasement gegenüber Deutschland unterbleibt, wie es Vorgänger Édouard Daladier mit dem Münchner Abkommen vom September 1938 für angebracht hielt. Nur, wen kann man jetzt noch verraten? Die Tschechoslowakei wurde geopfert, Polen im Stich gelassen, Belgien ist überrannt. Wen kann man noch verraten außer sich selbst?
Churchill fliegt am nächsten Tag nach Paris, trotz des Risikos, von deutschen Jägern abgeschossen zu werden. Was ihn erwartet, ist eine fatale Offenbarung. Während des Treffens mit Reynaud fragt er Maurice Gamelin, den französischen Oberbefehlshaber: Da so viele Truppenteile sich auflösen, auf wen ist Verlass? Wo steht die strategische Reserve? Wie Churchill in seinen Memoiren schreibt, sei mit Bedauern eingeräumt worden, dass man über keine verfüge. Es riecht in Paris nicht nur nach verkohlten Akten, die im Garten des Außenministeriums am Quai d’Orsay verbrannt worden sind. In der Luft liegt die Kapitulation vor der Kapitulation.
Einen Monat später, am 14. Juni, wird die Wehrmacht am Arc de Triomphe vorbei über die Champs-Élyseés defilieren. Hunderttausende von Arbeitern haben vergeblich darauf gewartet, bewaffnet zu werden, aber die bürgerliche Regierung liefert die Hauptstadt lieber aus, als einer Armee des Volkes zu vertrauen. Und die Generalität, noch vereinnahmt vom Denken des Ersten Weltkrieges, hält den von Bunkern und Sperren durchzogenen Verteidigungswall der Maginotlinie von Sedan im Norden bis zur Schweiz im Süden für unüberwindbar. Der Gegner auch. Kam er 1914 über Belgien, kommt er 1940 wieder über Belgien, doch diesmal auf andere Weise und über andere Wege. Als Hitler am 10. Mai 1940 mit dem „Fall Gelb“ den Angriff auf die Niederlande, Luxemburg und Belgien auslöst, stoßen innerhalb weniger Tage schnelle Panzerverbände über die engen Gebirgsstraßen der Ardennen nach Frankreich vor, ohne dass die Infanterie sofort nachzieht, um Flanken zu sichern. Die Überlegenheit am Himmel gleicht es aus. Nach der Taktik des „Sichelschnitts“ wird aufmarschiert, wo es die Verteidiger am wenigsten erwarten. Schon nach 60 Stunden stehen deutsche Truppen vor den Befestigungsanlagen von Sedan und damit an der Maas. Als am 26. Mai Calais am Kanal fällt, ist der Krieg zu gut wie entschieden.
Frankreich hat sich dem deutschen Faschismus ergeben, ist seiner Moral beraubt, bleierner Ohnmacht verfallen, aus der zu erwachen, einem Albtraum gleicht. Nicht einmal der Schmerz kann die Menschen betäuben, wo er doch so zuverlässig um sich greift. Was bleibt? Wenigstens die liebliche Landschaft überall? Das Tal, „in dem ein Flüsschen singt und munter mit silbernem Geflirr die Gräser säumt, darein die Sonne blinkt vom stolzen Berg herunter“, wie Arthur Rimbaud im Oktober 1870 schreibt? Zu jener Zeit zieht ein anderer Krieg die Furche, und der Dichter erblickt in seinem Sonett bald den jungen Krieger, der „barhaupt und mit offnem Munde den Nacken in der blauen Kresse Bad gesetzt“.
Im Sog der Niederlage von 1940 ereignet sich eine Tragödie, die der Rede wert sein sollte, wann immer man sich des zu Boden geworfenen Frankreichs erinnert. Kaum fallen die ersten deutschen Bataillone ein, werden Zehntausende von Emigranten in Lagern interniert, in Le Vernet, Gurs und Rieucros im Pyrenäenvorland oder im Fort Carré auf Cap d’Antibes. Es ist ihnen verwehrt, dem Land ihres Asyls beizustehen, das ihnen Schutz bot und Zuflucht war. Stattdessen müssen Deutsche, Österreicher, Tschechen, Polen und Saarländer (sie haben beim Referendum von 1935 dafür geworben, sich Frankreich, nicht dem III. Reich anzuschließen) erleben, dass sie zu „feindlichen Ausländern“ gestempelt werden. Die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Alfred Kantorowicz, Wilhelm Herzog, Franz Hessel, Hans Marchwitza, den Historiker Golo Mann, den Maler Max Ernst verschlägt es ins Camp „Les Milles“. Eine stillgelegte, heruntergekommene Ziegelei in der Nähe von Aix-en-Provence, wo jeder Insasse mit zwei Quadratmetern Strohschütte auszukommen hat, dem Platz zwischen dem eigenen Koffer am Kopf und dem Koffer des Nachbarn am Fuß. Nachts führt ein Trampelpfad über geborstene Ziegel, Köpfe, Hände und Beine zur Latrine. Nicht mehr als ein Holzbalken für fünfhundert Mann, sodass Kot von der Decke ins Geschoss darunter tropft.
Präsident Albert Lebrun hat noch am 16. September 1939 Lion Feuchtwanger als Sprecher des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller empfangen, bevor der – einen Tag später – zum ersten Mal das Tor zur Gefangenschaft hinter Stacheldraht passieren muss. Offiziell will man sich mit den Internierungen gegen Spione schützen, gegen eine „Fünfte Kolonne“, die Sabotageakte verüben, die Bevölkerung demoralisieren und die Kampfkraft der Armee schwächen könnte. Tatsächlich wird vom Versagen der Regierung und des Oberkommandos abgelenkt, vom Verhalten der Sympathisanten Hitlers, die sehnlich erwarten, was ihnen der Vasallenstatus an der Seite des Eroberers beschert. Die Militärkaste um Marschall Philippe Pétain, die Faschisten des Parti Populaire Français, der rechtsradikale Geheimbund der „Cagoulards“, die bourgeoisen Wirtschaftseliten – sie alle halten Frankreich unterm Hakenkreuz für eine wünschenswerte Bastion gegen Kommunismus und Volksfront. Da ist es logisch, dass im heraufdämmernden faschistischen Protektorat Antifaschisten wie Feuchtwanger und Hasenclever zu unerwünschten Personen werden.
In seinem 1942 im mexikanischen Exilverlag El Libro Libre erschienenen Erlebnisbericht Unholdes Frankreich – nach 1945 tragen alle weiteren Auflagen den vom Autor ursprünglich vorgesehenen Titel Der Teufel in Frankreich – nennt Feuchtwanger das Lager „Les Milles“ ein „Massengrab, in das man uns lebenden Leibes geworfen hat“. Eine Fallgrube, aus der es kaum mehr ein Entrinnen gibt, je weiter die Nazis vorrücken. Kein Wunder, wenn Fatalismus die Zuversichtlichen und Todesangst die Verzweifelten übermannt. Sie werden zu Objekten einer herzensträgen Maschinerie, die ihr Leben nicht schützt – deren Räderwerk allein dazu taugt, Leben zu zerstören. Briefe an die ebenfalls internierten Frauen oder die Familie zu schreiben, hat keinen Sinn. Wohin soll man sie adressieren? So viele sind in Bewegung, halb Frankreich ist im Juni 1940 auf der Flucht.
Walter Hasenclever, einer der Begründer des literarischen Expressionismus, schluckt in „Les Milles“ schließlich eine Überdosis Veronal und lässt sich am Morgen des 22. Juni 1940 nicht mehr wecken. Das ihm aufgezwungene Dasein eines Erniedrigten ist ihm kein Aushalten mehr wert. Feuchtwanger hingegen, kann – gestützt auf selbstlose Helfer, und weil er prominent ist – entkommen, sich über Spanien und Portugal in die USA retten. Und dies in höchster Not. Denn als Frankreich am 22. Juni 1940 im Wald von Compiègne kapituliert, heißt es in Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrages: Die französische Regierung, es wird die von Pétain in Vichy sein, verpflichte sich, „alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen, Kolonien und Protektoratsgebieten befindlichen Deutschen, die von der deutschen Regierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern“.
Da muss sich ein Land verleugnen und ist nur noch abgestorben. Es gleicht dem kranken Kind, als das Arthur Rimbaud seinen jungen Krieger im Gras liegen und lächeln lässt. „In seine Nase dringt der Duft nicht aus der Weite. Er schläft, die Hand auf stiller Brust, im Sonnenschein. Er hat zwei rote Löcher in der rechten Seite.“
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