Wer auf den Zehen steht, steht nicht sicher. Wer große Schritte macht, kommt nicht weit“, schrieb vor mehr als 2.500 Jahren der chinesische Philosoph Laudse in seinem Traktat Daudedsching. Den Dichter Bertolt Brecht inspirieren die 81 Sinnsprüche 1938 zum Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Daudedsching auf dem Weg des Laudse in die Verbannung. Es endet mit dem Lob für einen Zöllner, der den Weisen auf dem Weg in die Emigration bei sich beherbergte und bat, doch aufzuschreiben, was ihn um-, nun sogar aus dem Land treibe. Es sei nicht nur erlaubt, sondern geboten, „dem Weisen seine Weisheit“ zu entreißen“, findet Brecht. Laudse tut, worum er gebeten. Besonders die Kunst zu leben, hat er seinen Landsleuten nahebringen wollen, aber kein Gehör gefunden, denn „die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“ (Brecht).
Hätte man Chinas Staatsgründer Mao Zedong dazu raten sollen, als er am 1. Oktober 1949 auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz die „Zentrale Volksrepublik China“ ausruft, es dem Zöllner gleichzutun und seinerseits dem Werk des Laudse „zu entreißen“, was immer darin über Lebenskunst und nicht nur das zu erfahren war? Im Wissen um den Gang der Ereignisse in den zurückliegenden sieben Jahrzehnten mag das ein berechtigtes Ansinnen sein. Andererseits: Wie verstiegen mutet es an, solche Empfehlung auch nur zu erwägen? Sich damit zum Richter über ein politisches Denken aufzuschwingen, das von der phänomenalen Kulturgeschichte einer Nation wie der chinesischen nicht zu trennen ist – nie kommunistisch oder maoistisch oder nationalistisch oder autokratisch allein war.
Wiederum andererseits: Als Mao Zedong 1958 für Chinas Sozialismus den „Großen Sprung nach vorn“ verkündet, soll sich Laudses Warnung vor den „großen Schritten“ bewahrheiten. Das Land „kommt nicht weit“. Statt von Stärke und Prosperität gesegnet zu sein, versinkt es im ökonomischen Chaos. Jede Volkskommune soll plötzlich den eigenen kleinen Hochofen unterhalten und Stahl gießen. Und die Reisfelder verdorren, eine Hungersnot ist die Folge.
Viel spricht dafür, dass die maoistische Führung 1965 die „Große Proletarische Kulturrevolution“ nicht deshalb proklamiert, um mit den „Feinden des Sozialismus“ abzurechnen, sondern Kritiker ihres verheerenden „Großen Sprungs“ abzuräumen. Als Mao-Truppler und Rote Garden aufmarschieren, gerät das zum Putsch. Die 1949 verkündete „revolutionär-demokratische“ wird zur „maoistischen Diktatur“. Eine Zäsur, die seinerzeit auch Deng Xiaoping trifft – heute als einer der größten chinesischen Staatsmänner aller Zeiten verehrt, weil er sich 1978 mit seinen reformerischen Ideen durchgesetzt hat. Im Mahlstrom der Kulturrevolution wird Deng aller Ämter enthoben, sein Sohn Pufang, mutmaßlich stellvertretend für den Vater, aus einem Gebäude der Peking-Universität gestürzt. Der damals 35-Jährige überlebt, bleibt aber von der Brust abwärts gelähmt und muss vom Vater gepflegt werden, der seit Oktober 1969 als „konterrevolutionäres Subjekt“ in die Südprovinz Jiangxi verbannt ist.
Im Daudedsching hatte Laudse seine Zeitgenossen nicht nur in der Lebens-, sondern auch der Regierungskunst unterweisen wollen und angemerkt, man müsse den „großen Staat“ regieren, „wie man kleine Fische brät“. Was so viel hieß wie: Bei allem, was ihr als Herrscher anstellt, lasst größte Vorsicht walten. Es ist schnell verdorben und nicht mehr zu gebrauchen, was ohne Geduld und Geschick betrieben wird. Fehlt es den Regierenden der Volksrepublik in deren Frühzeit zu oft daran? Zudem am nötigen Augenmaß, wenn sie die „permanente Revolution“ preisen und eine Kampagne nach der anderen entfachen? Als der VIII. KP-Parteitag 1956 den Aufbau von Grundlagen des Sozialismus beschließt, folgt als Prolog des „Großen Sprungs“ die „Initiative des besonderen Weges“, den China einschlagen müsse, um über sich selbst hinauszuwachsen. Zur gleichen Zeit ruft Mao zur Kampagne „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen wetteifern“ und bezieht sich auf die „Ära der Streitenden Reiche“, als während der Feudalzeit philosophische Sichten miteinander konkurrierten. Vorzugsweise Künstler und Intellektuelle sind aufgefordert, ihre Kreativität in den Dienst der sozialistischen Gesellschaft zu stellen und klar zu benennen, woran es der (noch) fehlt. Wer danach handelt, muss Jahre später erkennen, sich möglicherweise selbst denunziert zu haben, als ab 1965 mit der Kulturrevolution die „Kampagne gegen die Handlanger des Kapitalismus“ beginnt. Nun zieht die Sense des Kahlschlags unerbittlich ihre Kreise und lässt „tausend Blumen“ fallen.
Deng Xiaoping sitzt an seinem Verbannungsort fest und arbeitet für eine Traktorenfabrik, als ihn im Dezember 1971 die verschlüsselte Nachricht erreicht: Lin Biao, Verteidigungsminister und Verfechter der Kulturrevolution, habe Mao Zedong stürzen wollen, sei aber gescheitert und mit seinem Flugzeug auf der Flucht ins Ausland abgestürzt. Was Deng davon überzeugt, die Wahrheit gehört zu haben, ist die umgehend ausgerufene „Kampagne zur Entlarvung von Lin Biao und Konfuzius“. Dass mit dem Ultramaoisten Lin auch der chinesische Philosoph Konfuzius – er lebte von 551 bis 479 v. u. Z. – am Marterpfahl steht, erscheint absurd, ist aber als Warnung gedacht und insofern logisch. Es geht um die Botschaft: Selbst wenn Lin Biao tot ist, hoffe keiner, dass wir dem ewigen Kampf der Gegensätze abschwören und uns womöglich an Konfuzius halten. Der hatte einst die Auffassung vertreten, die „innere Harmonie“ eines Staates sei unabdingbar für seinen „inneren Frieden“. Die Kampagne geißelt dies als fatal und konterrevolutionär und in Stein gemeißelt.
Mit der Zeit werde „das weiche Wasser in Bewegung“ den „mächtigen Stein“ besiegen, war Laudse überzeugt, um anzudeuten, dass die Macht der Umstände schon manches Umdenken befördert hat. So wird Deng Xiaopings Tochter Maomao im Juli 1972 aus der Verbannung nach Peking beordert und erfährt, dass Mao Zedong ihren Vater nicht länger als Feind betrachte. Seine Rückkehr in die Führung der Volksrepublik sei erwünscht.
Als der „Große Steuermann“ am 9. September 1976 schließlich stirbt, ist die Zeit reif, eine Gesellschaft aus dem toten Winkel der sozialen Apathie zu holen, ihr zum Glauben an die eigene Kraft und Würde zu verhelfen. Deng Xiaoping referiert Ende 1978 auf der III. ZK-Tagung des XI. Parteitages der KP Chinas über eine „Wende der Reformen“, stößt auf einhellige Zustimmung und mahnt zur Vorsicht. Die großen Fische sollten wie die kleinen gebraten werden, mit Bedacht und auf kleinem Feuer. Und er hat recht. Noch vor dem Hongkong-Vertrag von 1984 beginnt sich China als „Land der zwei Systeme“ einzurichten. Es vereint die Hochachtung für Mao Zedong mit der Abkehr vom Maoismus, die Öffnung zur Welt mit kultureller Hermetik und einem nationalen Wertekanon, der nun auch den Konfuzianismus würdigt, wirtschaftliche Liberalität mit politischer Autorität. Nie jedoch ist der Rückgriff auf staats- und privatkapitalistische Wirtschaftsformen als Identifizierung mit dem Westen zu verstehen. Es fehlt bis heute in Deutschland eine Gegenöffentlichkeit, die so viel Mut und Objektivität aufbringt, das zu respektieren, wenn nicht anzuerkennen.
Was freilich so gut wie keinen Einfluss darauf hat, ob und wie Chinas „sozialistische Marktwirtschaft“ als Einheit und Kampf der Gegensätze überlebt. So beherrschbar die erscheinen, so unberechenbar bleiben sie. Wohl nicht zufällig hat die jetzige, die vierte Führungsgeneration seit der Staatsgründung das „soziale Management“ zu ihrem Credo erklärt.
„Ein wahrer Lenker der Menschen aber ist demütig“, empfahl Laudse im 68. Vers des Daudedsching. Bertolt Brecht muss das für einen frommen, aber nicht unerfüllbaren Wunsch gehalten haben. Sein Laudse bewegt sich auf einem Ochsen in die Emigration. Nach der chinesischen Überlieferung ein träges, dazu triebhaftes Tier, angewiesen auf die kluge, vorausschauende Führung seines Reiters.
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