Es mutet wie Exkommunizierung an, was die in Moskau erscheinende Zeitschrift Nowoje Wremja (Neue Zeit) in der Ausgabe vom Juni 1977 mit Santiago Carrillo veranstaltet. Der Generalsekretär der KP Spaniens sieht sich als Renegat und Saboteur der kommunistischen Weltbewegung geschmäht. Er habe der Sache des Gegners gedient, als er das Schicksal des Sowjetalliierten Tschechoslowakei im Sommer 1968 als „Tragödie“ beschrieb und der Sowjetunion vorwarf, wer derart eingreife, schade dem Sozialismus. Der Verriss wirkt wie ein Nachschlag zu heftigen ideologischen Kontroversen, die ein knappes Jahrzehnt zuvor den Umgang mit dem Reformsozialismus in der ČSSR flankiert haben.
Schließlich bediente der „Prager Frühling“ den seit der Oktoberrevolution 1917 latent schwelenden Konflikt zwischen der politischen Kultur eines westeuropäischen Marxismus und der politischen Praxis des Leninismus in der UdSSR, der den Stalinismus nicht verhindert, eher begünstigt hatte. Was es bedeutete, wenn 1968 die KP der Tschechoslowakei (KPČ) das Recht auf ein eigenständiges Modell des Sozialismus reklamierte, lag auf der Hand. Nicht nur der Führungsanspruch der Sowjetunion war bedroht, auch die Universalität des als Staatsideologie firmierenden Marxismus-Leninismus stand zur Disposition, sollte der Gebrauchswert des Leninismus für die ČSSR in Frage gestellt sein. Lief das auf eine Autonomie sozialistischer Staatsparteien hinaus, deren Länder einem Bündnis angehörten, das weder omnipotent noch unerschütterlich war? Von dessen Zustand hing die Balance einer bipolaren Weltordnung ab.
Was in Moskau besonders alarmierte, das waren spezifische Erinnerungen, die mit dem 1968 in Prag bekundeten Willen zu mehr Souveränität ausgelöst waren. Sie galten einem tschechoslowakischen Staat, der zwischen 1918 und 1939 (bis zur deutschen Okkupation) existierte, und sie reflektierten den distanzierten bis feindseligen Umgang, den es einst mit Sowjetrussland während der Staatsbildung gegeben hatte. Zwar war die erste Tschechoslowakische Republik (ČSR) maßgeblich der Niederlage der Habsburgischen Monarchie, die bis 1918 Böhmen und Mähren einschloss, im I. Weltkrieg zu verdanken. Doch hätte der erste Präsident Tomáš Masaryk die unabhängige Republik ohne den Beistand der Ententemächte schwerlich schon am 28. Oktober 1918 ausrufen können. An diesem Tag kapitulierte Österreich-Ungarn, indem es einen Waffenstillstand an allen Fronten annahm. Warum daraufhin sofort einen tschechoslowakischen Staat gründen? Offenbar hielten es Frankreich und Großbritannien für geboten, in Prag vollendete Tatsachen zu schaffen. Der französische Premier Clemenceau hatte gar schon am 29. Juni 1918 den Tschechoslowakischen Nationalausschuss unter Masaryk als Vorläufer einer künftigen Regierung anerkannt, wohl wissend, dass die sich zur parlamentarischen Demokratie bekannte, die Nähe zu den Westmächten brauchte und sich gegenüber Sowjetrussland abschottete. Die Bolschewiki sollten auf den noch ungefestigten Staat keinen Einfluss haben. Rätemacht und Sozialismus würden Demokratie und Westbindung schaden. In einem mit Über den Bolschewismus betitelten Aufsatz befand Masaryk Anfang 1921: „Die bolschewistischen Führer sind in ihrer großen Mehrheit Halbgebildete. Im Bolschewismus gibt es keine präzise Wissenschaft, seine Mängel und Fehler sind die Frucht der Halbbildung, des Dilettantismus, des fanatischen blinden Glaubens.“
Ein halbes Jahrhundert später klang in Prag das Beharren auf der Unvereinbarkeit politischer Kulturen – verhalten, aber hörbar – wieder an, als etwa der Philosoph Jiři Cvekl in Nová Mysl, dem theoretischen Organ der KPČ, vermerkte, man könne verstehen, „dass der Marxismus, der in der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Slawophilen und Westlern nach Russland kam, allmählich dieselben Formen annehmen musste, die der russischen Kultur und dem russischen Milieu eigen waren“. Es habe sich um „keine bloße Deformation, sondern eine Veränderung des Sinns“ gehandelt, die sich aus dem anders gearteten Kontext ergeben habe. Mit der Definition des Leninismus als Mutation des Marxismus wurde 1968 – nicht in offiziellen Dokumenten der KPČ-Führung unter Alexander Dubček, sehr wohl aber in informellen Foren und Publikationen wie Literární listy – die Hinwendung zu einem spezifisch „nationalen“, „tschechischen“, „europäischen“ Modell des Sozialismus begründet. Um dessen Merkmale zu bestimmen, könne man nicht auf den Leninismus zurückgreifen, der „einer anderen Zivilisation“ entsprungen sei, schrieb der Historiker Michal Reiman im Essay Das Monopol des Leninismus und die Tschechoslowakei, das 1968 im Augustheft von Nová Mysl veröffentlicht wurde.
Diese Statements zehrten von einem allseits geläufigen historischen Vorlauf. Schon Rosa Luxemburg hatte sich 1918 mit ihrer Streitschrift Zur russischen Revolution gegen eine schematische Übernahme leninistischer Schnittmuster für die sozialistische Bewegung verwahrt. Karl Kautsky, einflussreichster marxistischer Theoretiker der SPD zu Zeiten August Bebels, vertrat in seinem 1927 erschienenen Werk Die materialistische Geschichtsauffassung die Meinung, sich von leninistischem Denken zu emanzipieren, heiße der Theorie vom „demokratischen Sozialismus“ näherzutreten. Freilich hatte Lenin selbst in Spätschriften wie Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920) „linke“ Dogmatiker in der KPD ermahnt, sich programmatisch an den eigenen Verhältnissen zu beweisen, statt das Vorbild der Bolschewiki zu vergötzen.
Bei allem retrospektiven Firnis war 1968 die Debatte um ein westeuropäisches Sozialismus-Modell in der ČSSR auch ein Vorgriff auf Kommendes. Ab Mitte der 1970er Jahre sollte der Eurokommunismus, den die großen kommunistischen Parteien Westeuropas vertraten, dort ansetzen, wo reformerisches Denken im August 1968 ein jähes Ende fand. Die Bewegung zur Pluralisierung des Kommunismus fand in Santiago Carrillo einen Wortführer, der mit der Sowjetunion wie der KPdSU sehr viel robuster umging, als das die KPČ-Führung je gewagt hatte. In seinem Buch Eurokommunismus und Staat bescheinigte Carrillo der Oktoberrevolution, einen Staatstyp hervorgebracht zu haben, der zwar nicht bürgerlich sei, „aber auch als Staat der Arbeiterdemokratie, in dem das organisierte Proletariat die herrschenden Klasse ist, nicht gelten kann“. Daher müssten sich die spanischen Kommunisten nach Alternativen umsehen.
Für die Französische KP proklamierte Parteichef Georges Marchais „einen Sozialismus in den Farben Frankreichs“ und verwarf auf einem Parteitag im Mai 1979 die „Diktatur des Proletariats“. Für die seinerzeit stärkste KP in Westeuropa entwickelte in Italien Enrico Berlinguer die Idee vom „Historischen Kompromiss“ mit den staatstragenden, bürgerlichen Christdemokraten, um eine auf beiderseitigen Konzessionen beruhende Machtteilung anzubieten, nachdem der PCI bei der Parlamentswahl 1976 34,4 Prozent der Stimmen erreicht hatte. Dass Berlinguer scheiterte, lag – auch – an externem Widerstand, bei dem sich SPD-Kanzler Helmut Schmidt hervortat.
Was die Nowoje Wremja mit ihren Carrillo-Verriss 1977 indirekt einräumt, ist eine fortschreitende Spaltung und Erosion der kommunistischen Bewegung, die sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher sein kann. Ob ein tschechoslowakischer Reformsozialismus diesen tendenziellen Verfall hätte aufhalten können, erscheint zweifelhaft. Wer glaubt ernsthaft daran, dass im gegnerischen, westlichen Lager die ČSSR als Werbeveranstaltung für eine alternative Gesellschaftsordnung hofiert worden wäre, anstatt systemisch überwölbt und vereinnahmt zu werden? China hat unter anderen Voraussetzungen den Beweis erbracht, wie Konvergenz zwischen politischem Überbau sozialökonomischer Restauration funktioniert. Es blieb stets das fatale Los des Sozialismus, sich bei mutmaßlicher Erneuerung selbst aufzugeben.
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