Kein Tag ohne das Verlangen, in die Geschichte einzugehen. Auch als das Jahr 1990 seinem Ende entgegentreibt, will es von diesem Anspruch nicht lassen. Während in der zweiten Novemberhälfte ein KSZE-Gipfel in Paris das Ende der Teilung Europas zelebriert, zieht der nächste Nahostkrieg herauf. An der Seine wird eine neue Friedensordnung beschworen, am Golf eine neue Weltordnung begründet.
Anfang August hat Präsident Saddam Hussein Truppen ins Emirat Kuwait beordert, das im Handstreich besetzt und zur 19. irakischen Provinz erklärt wird. Der Diktator beruft sich auf historisch verbürgte Rechte und handelt offenbar in dem Glauben, die USA würden seine völkerrechtswidrige Landnahme gutheißen. Warum soll ein regionaler Machtzuwachs des Irak als dem Erzfeind des Iran in Washington nicht willkommen sein? Schließlich sieht die US-Regierung in der Islamischen Republik einen Schurkenstaat ersten Ranges.
Doch unterbleibt, was man in Bagdad erwartet. Tatsächlich erklärt sich US-Präsident George Bush senior umgehend zum Mehrheitsführer all jener Staaten, die auf Saddams bedingungslosen Rückzug drängen. Der kann aus Prestigegründen nicht hergeben, was er sich genommen hat, und hofft, dass die USA am Golf kein neues Vietnam riskieren werden. Ein weiterer Irrtum, es ist gerade die verlockende Aussicht, die Niederlage in Indochina zu tilgen, die Bush antreibt, für eine militärische Druck- und Drohkulisse zu sorgen, die so beeindruckend wie beängstigend wirkt.
Als am 19. November in Paris der KSZE-Gipfel beginnt, sind rings um den Irak bereits 250.000 US-Soldaten massiert (am Ende werden es 435.000 sein). Militärtransporter haben mehr als die doppelte Ladung in die Krisenregion geflogen, verglichen mit dem, was 1948/49 über die Luftbrücke nach Westberlin ging. Zugleich formiert sich eine Allianz aus europäischen (unter anderem Großbritannien, Frankreich), arabischen (unter anderem Saudi-Arabien) und asiatischen (unter anderem Pakistan) Staaten als Reservoir der Truppensteller, die 246.000 Militärs aufbieten. Deutschland leistet finanziellen Beistand, da es die Regierung Kohl für angeraten hält, mit dem soeben wiedervereinten Land nicht gleich in neue Krieg zu ziehen. Noch gilt, die alten haben gereicht.
Mit dem Aufmarsch am Golf wird dem Willen Geltung verschafft, den Irak mit Waffengewalt zur Räson zu bringen und für die künftige Weltordnung ein Zeichen zu setzen, obwohl die bellizistische Variante nicht alternativlos ist. Der UN-Sicherheitsrat hat am 6. August 1990, vier Tage nach dem Einmarsch in Kuwait, mit der Resolution 661 ein zwingendes Handelsembargo und weitere Sanktionen verhängt. Man könnte die Wirkung abwarten, ohne auf den großen Schlag zu setzen. Und steht nicht in der Präambel der „Charta von Paris“, die das KSZE-Treffen verabschieden will, es breche „ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an“? Wird nicht unablässig die Gorbatschow-Vision vom „gemeinsamen Europäischen Haus“ bemüht? Allerdings wird dabei häufig übersehen, dass sich unter einem solchen Dach – sollte es jemals gedeckt sein – nicht Gleiche unter Gleichen einrichten werden, immerhin haben in West und Ost Militärallianzen nicht gleichermaßen ausgesorgt. Auch wenn sich Nordatlantik- und Warschauer Pakt gegenseitig ihrer Friedfertigkeit versichern, schließt nur das östliche Bündnis einen Wortbruch aus, indem es sich bis zum 1. Juli 1991 auflöst. Eine der Konsequenzen besteht darin, dass Deutschland in Gänze der NATO zugeschlagen wird. Für die Sowjetunion besiegelt das eine – allein aus historischen Gründen – schwer zu verkraftende Niederlage. Sie verliert mit den Verbündeten an ihrer Westgrenze ein bis 1945 durch immense Kriegsopfer errungenes Sicherheits- und Friedenspfand.
Von daher konferieren bei der KSZE in Paris auch Sieger und Verlierer des bipolaren Zeitalters. Deren verbindlicher Umgangston wird kein Vorgriff auf verlässliche Umgangsformen sein. Ohnehin ist viel im Fluss. Wie sich bald herausstellt, repräsentieren die 34 KSZE-Staaten (32 aus Europa, dazu die USA und Kanada) lediglich ein Übergangsstadium. Als die Staatenassoziation Ende 1994 mit ihrer Budapester Konferenz zur OSZE mutiert, geschieht das nach der Formel „34 plus 23“. Der Epochenbruch hat KSZE-Staaten zersprengt, erst 1991 die Sowjetunion, dann während eines Jahrzehnts des selbstzerstörerischen Wahns das föderative Jugoslawien. Die Rationalität der Ordnung von Jalta hat auch dahingehend ausgedient, dass nach 1945 entstandene Grenzen in Europa wegen ihrer – nicht zuletzt durch die KSZE-Schlussakte von 1975 verbrieften – Unverletzlichkeit keine Anti-Kriegsagenda mehr sind. Realpolitik ist gut beraten, davon Kenntnis zu nehmen und zu bekennen, anderen Maximen folgen zu müssen.
So revidiert die Sowjetunion am 8. November 1990 ihre bis dahin im Sicherheitsrat bezogene Position, den Irak nicht anzugreifen, und teilt mit, man schließe den Gebrauch von Gewalt nicht mehr aus. Im Klartext, wir sehen uns im Bewusstsein des eigenen Machtschwunds zum Kotau vor traditioneller Machtpolitik genötigt. Gorbatschows „Neues Denken“ hat genau in dem Moment ausgespielt, als es beweisen könnte, wozu es taugt.
Nach der Kurskorrektur in Moskau gibt es für die US-Regierung kein nennenswertes Hindernis mehr, im UN-Sicherheitsrat am 29. November gegen lediglich zwei Gegenstimmen nichtständiger Mitglieder (Kuba, Jemen) die Resolution 678 durchzusetzen. Darin heißt es, militärische Gewalt sei berechtigt, sollte der Irak nicht bis zum 15. Januar 1991 aus Kuwait abziehen. Damit entspricht der Sicherheitsrat gemäß der UN-Charta seiner Aufgabe, der Aggression eines Staates gegen einen anderen wirksam zu begegnen. Er ist jedoch nicht selbst dazu bereit, nach Artikel 42 der Charta „mit Luft-, See- und Landstreitkräften die Maßnahmen zu ergreifen“, die geboten erscheinen. Stattdessen unterwirft er sich den von den USA und deren Alliierten in der Konfliktzone bereits geschaffenen vollendeten Tatsachen. Und das, obwohl Resolution 678 offenlässt, wenn schon Gewalt sanktioniert wird, wer dazu autorisiert ist, sie anzuwenden. Die Auslegung der USA, sie fühlten sich zum Militärschlag gegen den Irak ermächtigt, trifft bei UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar auf keinen Widerspruch.
Also Krieg im Namen der UNO. Nur wie verträgt sich das mit dem in Artikel 2 der Charta verankerten Gewaltverbot? Weil das als Ultima Ratio der internationalen Sicherheit nie beschädigt werden sollte, hatten die Begründer der Weltorganisation einst ein Prozedere vereinbart, dass für den Fall eines militärischen Eingriffs in Konfliktsituationen zu beachten war. Danach durfte der Sicherheitsrat als unumgänglich erachtete Maßnahmen einzelnen oder mehreren Staaten nur dann übertragen, wenn er durch einen von ihm zu bildenden „Generalstabsausschuss“ die „strategische Führung aller Streitkräfte“ (Charta, Artikel 47) behielt. Dagegen hat bereits der Truppenaufmarsch am Golf verstoßen – das gerät vollends außer Betracht, als der Irak nach dem 15. Januar 1991 angegriffen wird. Das Kommando über die „Operation Wüstensturm“ führt mit Norman Schwarzkopf ein US-General, der allein Präsident Bush unterstellt ist, keinem Sicherheitsrat.
Durch die Ambivalenz der UNO gegenüber der eigenen Charta wird der Irak-Krieg zu einem Präzedenzfall des postpolaren Zeitalters. Er zeichnet vor, wie sich die Weltorganisation in den Jahrzehnten danach zu den Waffengängen in Afghanistan (2001), erneut im Irak (2003) und in Libyen (2011) verhalten wird. Die Vereinten Nationen legitimieren Gewalt und diskreditieren, wofür sie zuständig sein sollten – eine kollektive Sicherheit. Insofern zieht mit dem Krieg am Golf eine neue, aber keine bessere Weltordnung herauf, wenn durch militärische Gewalt oder deren Androhung politische Ziele durchgesetzt werden. Natürlich wird der Irak seinerzeit in die Knie gezwungen, nicht aber das Regime Saddam Husseins. Es hat den Anschein, als sollten noch Kriegsziele übrig bleiben.
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