2019: Bloß nicht etepetete

Zeitgeschichte Das Fontane-Jahr geht zu Ende, über den Dichter ist alles gesagt. Bliebe nur der Verweis: Man täte ihm unrecht, würden über den Hauptgestalten die Nebenfiguren vergessen
Ausgabe 51/2019

Als ihm die Lebenskräfte schwinden und die Zweifel wachsen, ob er das nächste Frühjahr noch erlebt, überschlägt der märkische Junker Dubslav von Stechlin sein Leben. Missmutig gräbt er in sich nach Erinnerungen und findet, immer nur „auf ein Pflichtteil“ gesetzt gewesen zu sein. Weil die Frau früh starb, sei ihm über all die Jahre eigentlich nur sein Diener Engelke geblieben, „der noch das Beste war“ in der verwitterten Kate, die sie ringsherum „Schloss“ oder „Herrenhaus“ nennen und nicht ahnen, was es heißt, darin aushalten zu müssen.

Je schlechter es Dubslav geht, desto mehr gerät in Theodor Fontanes Roman Der Stechlin (1898/99) der alte, treue Diener in den Vordergrund. Engelke bettet, versorgt und tröstet seinen Herren, vertreibt die bösen Geister und gierigen Geier, die über Dubslav und seinem Anwesen kreisen, um zu erkunden, was zu holen ist, wenn es so weit sein wird. Es sind Randgestalten wie diese, die in des Dichters erzählerischem Werk den Hauptfiguren nicht selten den Spiegel halten, auf dass die sich erkennen, begreifen und durchs Leben finden.

Was bliebe von der hilflosen, um jeden Lebenshalt gebrachten Effi Briest (geschrieben 1894/95) ohne das Kindermädchen Roswitha, das mit ihr in die kleine, fast ärmliche Berliner Wohnung zieht, um ihr beizustehen. Schließlich ist Effi wegen einer an sich belanglosen Affäre nicht nur von ihrem Ehemann, sondern zunächst auch von den Eltern verstoßen. Und was fehlte in Fontanes Romandebüt Vor dem Sturm (1878), müsste der fesselnde Charakter von Hoppenmarieken entbehrt werden, ein märkisches Unge(s)tüm und Urgestein, das den jungen Lewin von Vitzewitz vor einem Erschießungspeloton Napoleons rettet. Oder man denke an Corinna Schmidt aus dem Roman Frau Jenny Treibel (1892), der die derb deftigen Sprüche der Haushälterin Rosalie Schmolke die Heiratslust vertreiben. In der Novelle Stine (1888) wiederum wäre Graf Haldern ohne die schlagfertige Witwe Pauline Pittelkow, seine Gespielin aus niederem Stande, nur ein fader, vergnügungssüchtiger Flaneur. Im Buch Die Poggenpuhls (1894) über das Verarmen und Versinken des preußischen Offiziersadels hat das Familienoberhaupt, die Majorin Albertina Pogge von Poggenpuhl, drei Töchter, zwei Söhne und eine Vertraute – das Dienstmädchen Friederike.

Vor allem aber, wohin käme Dubslav von Stechlin ohne Engelke? Der muss nur ein Gesicht ziehen, und der Alte weiß, er sollte besser auf Wahlreden verzichten, wenn er schon meint, für seinesgleichen und die Grafschaft Ruppin-Rheinberg in den Reichstag ziehen zu müssen. Fontanes Kammerdiener, Zofen, Haushälterinnen, Mägde, Kaltmamsells, Kindermädchen, Kräuterhexen, Geliebte, Gesellschafterinnen und Mätressen sind die „Domestiken“ von Junkern und Schlossherren, Offizieren, Fabrikanten und Rentiers, Parvenüs und Müßiggängern, Gemahlinnen und Hofdamen. Sie werden gebraucht als seelischer Beistand, gutes, schlechtes oder soziales Gewissen, als Beichtvater, Handlanger, Rufwahrer, moralische oder letzte Instanz. Man trifft sie in Dachstuben und Mägdekammern, an Kochmaschinen, in Wirts- und Gesindehäusern. Sie schwingen nicht die Fahne des Gefühls, sondern abgeklärter Klugheit, wie sie das Leben so mit sich bringt. Sie pflegen und beherrschen einen Dialekt, aus dem sich die Berliner Adler- und Dorotheenstraße genauso heraushören lassen wie die Prignitz oder die Uckermark.

Die in Werken wie Der Stechlin und Die Poggenpuhls entworfenen Familienporträts blieben ohne den nötigen Rahmen, fielen nicht auch fürs „Personal“ ein paar Striche ab, die zum Charakterbild führen. Wenn sich über Fontanes späte Arbeiten sagen lässt, dass mit ihnen ein Zeitalter in seinem Aufstieg, Fall und Verfall in Augenschein genommen wird, dann auch deshalb, weil es an „literarischer Komparserie“ nie fehlt. Ohne Engelke, die Schmolke und die Pittelkow, Roswitha und Friederike wäre eine Sittenkunde der neureichen preußischen Gesellschaft wie der alteingesessenen märkischen Rübenkaiser und Klosterjungfern mit ihren Marotten kaum denkbar. Es wird sogar manche Klippe der Lesbarkeit umschifft. Wenn Fontane das elegische Schildern übermannt, sorgen die „Domestiken“ fürs unterhaltend Anekdotische mit Bodenhaftung. In Frau Jenny Treibel riskiert besagte Rosalie Schmolke einen unbestechlichen Blick auf das Geld- und Geltungssüchtige der Titelfigur, der Kommerzienrätin und Fabrikantengattin. Als sich die bürgerlich selbstbewusste Corinna Schmidt, der die „Schmolken“ den Haushalt führt, in der trügerischen Hoffnung wiegt, sie könne den Treibel-Sohn Leopold ehelichen, setzt es eine Strafpredigt. „Nu muss’te Schicht damit machen, Corinna. Du kannst doch nich die ganze Welt auf den Kopf stellen, und dein und anderer Leute Glück, worunter auch dein Vater und deine alte Schmolke is, verschitten und verderben wollen, bloß um der alten Kommerzienrätin mit ihrem Puffscheitel und ihrer Brillantbommel einen Tort anzutun. Das is ne geldstolze Frau, die bloß immer Etepetete tut.“

Als sollte ein Volksbrauch gewürdigt werden, darf die „Schmolken“, Witwe eines Beamten aus der Berliner Sittenpolizei, von sich selbst ergriffen und ins Understatement verliebt sein. „Ich führe ja bloß die Wirtschaft und bin bloß eine Dienerin.“ Ja, sicher, doch nimmt sie Anteil am Geschick der Herrschaft wie dem eigenen, dass es ihr manchmal schon weh ums Herze wird, und „die Tränen man so pimperlings“ herausstürzen.

In Stine lässt sich Pauline Pittelkow zwar die Protektion und Anzüglichkeiten ihres gräflichen Gönners gefallen, aber weder Ehre noch Ehrbarkeit abkaufen. Die Soupers in ihrer rustikal gehaltenen Wohnung an der Invalidenstraße soll es bitte schön geben, doch dürfen es nur Abende des Amüsements, nicht des Amourösen sein.

Mit Gestalten wie diesen beruft sich Fontane auf das Stolze und moralisch Würdige der kleinen Bürger, die das Manierliche und Unbefleckte ihrer Reputation zu achten wissen. Wer aus dieser Kaste zum Unbotmäßigen verführt oder dessen angeklagt wird, der wehrt sich mit Hingabe. So fährt die Pittelkow dem Grafen gehörig in die Parade, als der die Schwester Ernestine, genannt „Stine“, beschuldigt, sich eine Ehe mit seinem Neffen Waldemar erschleichen zu wollen. „So weit sind wir noch nicht, dass die Häuser Haldern und Pittelkow Arm in Arm ihr Jahrhundert in die Schranken fordern“, wettert der Patron und Pauline pariert: „Mein Stinechen ist kein Mächen, das sich an einen hängt oder mit Gewalt einen rankratzt, Graf oder nich, un hat’s auch nich nötig. Die krieg schon einen.“ Es sei ihm wichtig, dass seine Nebenfiguren immer die Hauptsache sind, schreibt Fontane 1892 an den Literaturkritiker und Verleger Maximilian Harden, „in ‚Stine‘ nun schon gewiss, die Pittelkow ist mir als Figur viel wichtiger als die ganze Geschichte“.

Mit diesen „Bediensteten“, ihrem unbestechlichen Realismus und Urteil widerruft Fontane – bewusst oder unbewusst – auch manches von dem, was er seinen Gestalten an anderer Stelle über das Verstiegene, selbstgerecht Beschränkte und Dummstolze der „Deutschen“ in den Mund legt. Dieses Volk sei „ohne Schliff, ohne Form“ lässt er in Vor dem Sturm ausgerechnet den Grafen Bninski schmähen, einen glühenden polnischen Patrioten (und das 1812, als Preußen noch immer als Verbündeter zweiter Klasse bei Napoleon an der Kette liegt). Niemals sei dieses Volk satt und zufrieden, so Bninski, es könne „nur eines, immer noch mehr haben, aber stets mit Tedeum, stets um Gott, um des Glaubens und anderer höchster Güter willen“. Die Annahme wäre vermessen, Fontanes „Domestiken“ seien dagegen vollends gefeit, doch alles in allem verkörpern sie einen wohltuenden Gegensatz zu Hochmut und Hoffart. Aus ihnen spricht die unwiderstehliche Macht gütiger Menschen und eines freien Herzens. Zum Ende des Romans Der Stechlin darf die kleine Agnes, ein unehelich geborenes Kind, Dubslav die ersten Frühlingsblumen aufs Totenbett legen. Der sie zu ihm führt, ist Engelke.

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