Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) tat so, als sei ihm der Leibhaftige erschienen. Ich saß ja direkt über ihm, ließ er sich gleich nach der Bundestagsdebatte vom 15. April 1999 vernehmen, in der ihm ein linker Politiker offenbar als Fra Diavolo erschienen war, dass Thierse Schwefel zu riechen glaubte. Gregor Gysi, damals Fraktionschef der PDS, war kurz zuvor in Belgrad gewesen, um mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević über ein Einlenken im Kosovo-Konflikt zu reden. Die Nato bombardierte zu jener Zeit Nacht für Nacht Serbien und Montenegro. Gysi war so dreist oder so kühn, mit Diplomatie auf einen offiziell nicht erklärten, gegen Völkerrecht verstoßenden Luftkrieg der Nato zu antworten. Als er über sein Gespräch berichten wollte, sah er sich einem parlamentarischen Hexenkessel gegenüber, der ihn als Vaterlandsverräter schmähte und am liebsten gesteinigt hätte, wäre es das Risiko wert gewesen, der PDS einen Märtyrer zu gönnen. Thierse beließ es bei sanften Aber-Aber-Rüffeln.
Zu erleben war in diesem von Krieg aufgeheizten Frühjahr eine Sternstunde der PDS, bevor die Partei in „Der Linken“ auf- und verlorenging. Was beeindruckte, war nicht allein der Mut zum Widerspruch, der als Widerstand wahrgenommen wurde. Zu bestaunen war die Originalität der Aktion, Gysis Überraschungscoup, bei Milošević auf dem Sofa zu sitzen, natürlich nichts zu erreichen, es aber versucht zu haben. Das verschaffte Legitimation, um das Aufbegehren gegen den ersten Krieg in Europa seit 1945, an dem wieder eine deutsche Armee beteiligt war, auf die Straße zu bringen.
Gysi hatte noch nicht der Überzeugung den Laufpass gegeben, dass die Nato kein Gewinn, sondern eine Gefahr für die Sicherheit des Kontinents darstellte. Wozu auch, man sah ja, was geschah. Seinerzeit stand die Ostausdehnung noch am Anfang, aber das Unbehagen Russlands bereits am Horizont. Die PDS warnte vor den Folgen, nicht von Dogmen umnebelt, sondern um realpolitische Klarheit bemüht. Niemand in ihrer Führung schien daran zu denken, eine glaubwürdige friedenspolitische Agenda der vagen Aussicht zu opfern, von SPD und Grünen, den Kriegsparteien von 1999, mit einer Dreierkoalition belohnt zu werden. Niemand sah in Selbstverleugnung eine Erfolgsgarantie.
Schwer einzuschätzen, ob Augenblicke wie der vom April 1999 von der Linkspartei in den Kellern der Erinnerung dem Vergessen preisgegeben sind. Oder ob von dort schwache Klopfzeichen durch den Panzer der Jahre dringen, damit nicht verschwunden bleibt, was geborgen gehört. Die Erfahrung nämlich, dass der notwendige Tabubruch kein Selbstzweck von Andersdenkenden ist, sondern als Zeichen des Andersseins gebraucht wird. Wie sonst lässt sich einem politischen System Paroli bieten, dem in Kriegszeiten demokratische Contenance verblüffend prompt abhanden kommt und in bellizistischen Furor abgleitet, wie zwei Monate Ukraine-Krieg offenbaren?
Die Toten von Kundus
Zu einer weiteren Sternstunde, nunmehr der Linkspartei, kam es ebenfalls im Bundestag am 26. Februar 2010 während einer Afghanistan-Debatte. Als die Abgeordnete Christine Buchholz sprach, erhob sich ihre Fraktion und zeigte Schriftbänder mit den Namen von Afghanen, die am 4. September 2009 in Kundus starben, als ein Tanklaster auf deutschen Befehl hin in Brand geschossen wurde. Man las: Guldin Djamaluddin, Schüler, 15 Jahre; Noor Alam Salmamatkhan, Bauer, 29 Jahre, drei Kinder; Rahmal Shah, Schüler, 9 Jahre … – sie waren unter den 142 Menschen, deren Leben in einem Feuerball endete. Alle Abgeordneten sahen, was Bundeswehr am Hindukusch bedeuten konnte. Es blieb ihnen dank der Linken nicht erspart, bis Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Wahrheit des Plenarsaals verwies. Sie hatte gegen die Geschäftsordnung verstoßen. Natürlich, mit einer Partei von solch „schlechter Kinderstube“, so der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), wolle niemand etwas zu tun haben. Nur der Grüne Christian Ströbele fühlte sich unwohl: Es werde ein falsches Zeichen nach Afghanistan gesendet, wenn man dort erfahre, „dass Abgeordnete, die allein die Namen der Kundus-Opfer hochhielten, aus dem Bundestag ausgeschlossen wurden“.
In der Linkspartei, die sich mit Rosa Luxemburg verwandt fühlt und deren Plädoyer für das Recht der Andersdenkenden wie ein Leumundszeugnis in eigener Sache zitiert, sollte man dringend nachlesen, was sie im August 1914 über die „Tribüne des Parlaments“ in Zeiten von Kriegshysterie und Chauvinismus notiert hat. Als sie Karl Liebknecht „einen unschätzbaren Beitrag zur sozialistischen Aufklärung“ attestierte. Es war „jedesmal ein schwarzer Tag für die Regierung und ihre Schildknappen, wenn Liebknecht im Reichstag oder Landtag auf die Tribüne stieg“, schrieb sie im Oktober 1916 in einem Spartakus-Flugblatt. Einst war das für die PDS und die Linkspartei unter Oskar Lafontaine kaum anders. Was kann sie jetzt noch daran hindern, dieser Tugend wieder die Treue zu halten? Das Nein zu einem deutschen Waffentransfer in die Ukraine ist ein erster Schritt.
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