Aussetzer oder Alleingang?

Dissident Barroso Der EU-Kommissionspräsident hat die Flucht nach vorn gesucht und einen aufgestockten EU-Rettungsfonds verlangt. Damit hat er die Gläubiger geschockt und verschreckt

Mitunter ist José Manuel Barroso als EU-Kommissionspräsident geführt, aber EU-Frühstücksdirektor genannt worden. Ihm schien eine Aura aus distinguierter Autorität und intellektueller Eleganz zu fehlen, wie man sie von Vorgängern wie Jacques Delors oder Romano Prodi kannte. Barrosos Aufritte ließen mehr an einen Sprecher als den Vorstand der EU-Kommission denken. Häufig verwechselte er Rhetorik mit Redseligkeit, die Amtsführung wirkte vollmundig und unvollendet. Vor seiner 2009 beginnenden zweiten Amtszeit brauchte er eine Auszeit bei der Wahl durchs Europäische Parlament, dessen Mehrheit zunächst den Daumen senken wollte und sich erst nach längerer Debatte dazu bereit fand, die Personalie abzunicken. Doch bei all diesem Ungemach – Zweifel an Barrosos politischer Zurechnungsfähigkeit wurden nie gehört. Sind die nun angebracht, seit er vor Tagen in einem Offenen Brief mehr Kapital für den Eurorettungsfonds verlangt hat? Ein Schreiben, das nahelegt: Der Beschluss des EU-Sondergipfels vom 22. Juli, den Fonds aufzustocken, erweist sich als unzureichend – die Schuldenkrise hat ihn längst überholt!

Gründlicher können verunsicherte Gläubiger nicht aufgeschreckt und ins Zinsfieber gegenüber ihren Großschuldnern gestürzt werden. Prompt geraten Spanien und Italien ins Zweilicht, sogar die Bonität Frankreichs ist nicht mehr über jeden Zweifel erhaben. Barroso wollte vermutlich die EU-Rettungsgemeinde vor sich hertreiben, stattdessen hat er die Gläubigerfront zum Handeln getrieben. Ob Alleingang, ob Kurzschluss, ob Dilettantismus – es kann nicht einmal die Entschuldigung gelten, der portugiesische Patriot im europäischen Präsidenten habe die Kontrolle über sich selbst verloren. Selten wurde so offensichtlich, mit welchem Spitzenpersonal die EU eine Krise zu meistern sucht, die sie existenziell herausfordert. Allem Gerede über starke europäische Institutionen zum Trotz werden die in einer Stunde der Not von schwachen Funktionären geführt. Neben Barroso sind das besonders Herman Van Rompuy und Catherine Ashton, die nach langem Tauziehen als Kompromisskandidaten in ihre Ämter gelotst wurden. Als Präsident des Europäischen Rates und EU-Außenbeauftragte, quasi Außenministerin, sind sie genau genommen Mandatare ohne Macht, von denen ein Krisenmanagement erwartet wird, das entweder misslingt oder gar nicht stattfindet. Wie sollte es auch anders sein? Barroso, Van Rompuy und Ashton sind die beste Garantie dafür, dass die Dominanz nationaler Interessen nicht leidet und die europäische Krise durch kein geeintes Europa eingedämmt, geschweige denn gelöst wird. Man sehe sich nur an, wie die EZB erst erklärt, sie wolle keine italienischen Staatspapiere kaufen, um es dann gegen den Willen einer Minderheit im Zentralbankrat zu Beginn der Woche doch zu tun.

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