Bis dahin und noch weiter

US-Dokumente Die von der Internet-Plattform Wikileaks veröffentlichten Dokumente über den Irak-Krieg zeigen, wie den USA dieser Krieg schon nach kurzer Zeit aus dem Ruder lief

Hat nicht Generalsekretär Rasmussen der NATO eine lichte Zukunft prophezeit, weil sie als Wertegemeinschaft daher kommt? Man muss sein Urteilsvermögen anzweifeln. Welches Werteverständnis die NATO-Führungsmacht USA pflegt, lässt sich hunderttausendfach aus den von Wikileaks veröffentlichten Protokollen über den Krieg im Irak entnehmen. Wenn das die Zukunft ist, wird sie ein Ausflug in die Barbarei. Was sonst belegen Berichte über zerschossene Menschenkörper, abgerissene Baby-Köpfe, willkürliche Exekutionen als den Triumph brutaler Niedertracht? Der Abfall von jeder Gesittung ist zwar beschämend, aber nicht weiter überraschend. Wahrlich bestürzend wirkt, wie die Amerikaner zu Opfern ihrer selbst wurden. Wie sie einen angezettelten Krieg nicht mehr zu beherrschen vermochten, als er in die Gefechte und Gemetzel eines Besatzungsregimes wechselte. Der Eroberer wollte den Irak demokratisieren, humanisieren und zivilisieren – dass er und seine willigen Koalitionäre nicht einmal in die Nähe dieses Anspruchs kamen, ist das eigentlich Verheerende. Wem ein Krieg so aus dem Ruder läuft, sollte ihn bleiben lassen. Er wird sonst zur Fortsetzung von Nicht-Politik mit anderen Mitteln. Diese selbst verschuldete Irrationalität kostet die USA mehr an nationaler Sicherheit, als die Abbilder bei Wikileaks vom Fall ins Verbrecherische künden. Wie viel Hass ist durch die Untaten geschürt, welches Rachegefühl geweckt worden? Welche geballte Ladung wurde da an eine Zündschnur gelegt, von der niemand weiß, wo sie endet – im Irak, im Nahen Osten oder ganz woanders.

Mit diesen Dokumenten werden keine Geheimnisse enthüllt. Was ist geheimnisvoll daran, wenn ein britischer Soldat in Basra ein kleines Mädchen einfach so aus seinem Panzer heraus erschießt? Daran ist nichts geheimnisvoll und alles barbarisch. Es zeigt die Exzesse eines Besatzers, den allein die Übermacht der Gewalt beatmet. Wozu sollten sich irakische Soldaten, Milizionäre, Folterer und Henker, deren Untaten gleichsam dokumentiert werden, sonst berufen fühlen, als diese Gewalt nachzuahmen?

Das Abendland wird eben nicht im Irak oder am Hindukusch verteidigt. Es wird dort vielmehr in seinem Hang zur Verrohung vorgeführt. Wer dafür zuständig ist, dem werden die Feinde nicht ausgehen. Sollen sie vermutlich auch nicht. Wer so über Leichen geht, muss nicht erschrecken, wenn sie ihm andere wie selbstverständlich hinlegen. Wer keine Gnade kennt, wird keine finden. Die USA – nicht minder ihre Claqueure gerade hierzulande – haben seit 9/11 viel getan, dass ihnen in den Kriegen des 21. Jahrhunderts der passende Mob nicht ausgeht. Ob sie Jihadisten, Islamisten oder Terroristen genannt werden, die aus dem Spiegelbild springen, erscheint zweitrangig. Entscheidender ist, dass es niemandem, keinem Palästinenser, Somali oder Jemeniten, zu verdenken ist, wenn er für die Freiheitsrechte der westlichen Welt nur noch Hohn übrig hat. Es sind keine 400 – es sind 400 mal 1.000 Reports, die nicht allein Grauen, sondern ebenso Unfähigkeit (und Unwillen?) bezeugen, den Entgleisungen der menschlichen Natur nichts, aber auch gar nichts zu schenken – außer Schuld und Sühne. Wo bleibt der Aufschrei? Wo der sonst so prompte Selbstreinigungstrieb der bürgerlichen Demokratien?




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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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