Handstreichartig hat der US-Präsident beim Gipfel in Brüssel der NATO den Bestandsschutz entzogen und sich dabei mit der Logik verbündet. Es darf in der Tat gefragt werden, warum setzt Deutschland mit diesem Bündnis auf Abschreckung gegenüber Russland, wenn beim Bau der Gaspipeline Nord Stream II der kooperative Umgang mit diesem Gegner bestens funktioniert und das konfrontative Gebaren konterkariert? Gewiss wollte Donald Trump mit seiner Attacke zu Beginn des NATO-Treffens Kanzlerin Merkel zu keiner Wende in ihrer Russlandpolitik drängen (zumal die seine widersprüchlicher kaum sein kann). Offenbar lag ihm vielmehr daran, deren Inkonsistenz auf den Punkt zu bringen, um die Botschaft zu platzieren: Ihr wollt die NATO gegen eine Macht aufbieten, die demnächst für gut 40 Prozent eures Energiehaushalts aufkommt. Das kann nur heißen, entweder ist die Russische Föderation nicht der Unruhestifter, als die sie immer hingestellt wird, oder Deutschland ignoriert das und verstößt gegen Interessen des Westens. Solange das nicht klar ist, müsst ihr mir zugestehen, mit der NATO so zu verfahren, dass ich davon politisch leben kann. Kurz vor dem Gipfel hatte Trump vor Anhängern in South Dakota erklärt: „Manchmal sind die schlimmsten Feinde unsere sogenannten Freunde.“
Was ist passiert? Trump hat das in Deutschland gern kolportierte NATO-Narrativ von der Werte- und Verteidigungsgemeinschaft zu illusionärer Gesundbeterei erklärt. Für ihn ist der Nordatlantikpakt die längste Zeit eine Allianz kollektiver Sicherheit gewesen, aus der heraus gegebenenfalls ein Mitglied für das andere in den Krieg zieht. Die Regierung Merkel selbst hat diese Bündnispflicht durch die von ihr zu verantwortende Konstitution der Bundeswehr außer Kraft gesetzt. Erst Anfang Mai musste der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) im Bundestag einräumen, diese Armee sei im Prinzip „nicht einsatzfähig“. Im Klartext: Wer für den Bündnisfall nicht gerüstet ist, kann dem Präzedenzfall kollektiver Sicherheit nicht gewachsen sein. Neben der Russlandpolitik die nächste Inkonsistenz. Wie lässt sich der desolate Zustand einer NATO-Armee rechtfertigen, wenn doch die russische Bedrohung angeblich so groß ist, dass sich die westliche Allianz nicht zuletzt dadurch legitimiert?
Wendiges Europa
Wo Bündnisverschleiß grassiert, da trifft es sich, wenn der US-Präsident die NATO wie einen Clan behandelt, in dem sich die Klienten Sicherheit kaufen, sofern sie das nötige Schutzgeld zahlen. Wer das in der gebotenen Höhe schuldig bleibt, verstößt nach der Lesart von Donald Trump derart gegen die Regeln, dass nicht mehr zusammenhalten kann, was nicht mehr zusammengehört. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorherzusagen, dass der Streit über die Lastenteilung auch künftig dazu dienen wird, die NATO in Washington für „obsolet“ zu halten. Dieses Adjektiv ließ sich der US-Präsident schon vor dem NATO-Gipfel Ende Mai 2017 einfallen. Seither ist einiges passiert, auf dass sich Zustandsbeschreibung und Zustand decken.
Was bedeutet der amerikanische Gunstentzug für die NATO in einem Augenblick, da das integrationswillige, liberale „alte“ Europa einem populistischen, auf die nationale Begehrlichkeit fixierten „neuen“ Europa gegenübersteht? Wie sehr solche Fronten sicherheitspolitisch relevant sein können, zeigt das Jahr 2003. Seinerzeit teilte sich der Kontinent schon einmal in die „Neuen“ und die „Alten“. Und das nicht nur in der Diktion des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Der quittierte mit Genugtuung, dass neben Großbritannien und Spanien fast alle osteuropäischen NATO-Länder mit den USA unter George W. Bush in den Irak-Krieg ziehen wollten und sich von Deutschland sowie Frankreich absetzten, die im Verein mit Russland auf Distanz gingen.
Anderthalb Jahrzehnte später trifft der Verlust an transatlantischer Normalität einen deutschen Staat, in dem sich die politischen Verhältnisse und Stimmungen so gravierend verändern, dass er gegen die nationale Versuchung des „neuen“ Europas längst nicht mehr gefeit ist. Zu Zeiten der Wiedervereinigung galt die mit NATO und EU gesetzte integrative Norm als unerschütterlich und zeitlos. Für eine sich darauf berufende postnationale Identität Deutschlands schien Gleiches der Fall zu sein. Es wurde 1990 als überflüssig empfunden, die mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wiedergewonnene Souveränität auf das damit verbundene historische Erbgut abzuklopfen. Was sich als Versäumnis herausstellt, wenn Bündnisse so wie jetzt ins Rutschen kommen. Plötzlich, aber wenig überraschend erweist sich die mutmaßlich überwundene als lediglich überspielte Nation, die wieder Subjekt der Geschichte sein und Anschluss an das wendige Europa halten will. Für Parteien, die in Deutschland mit ihren Texten voller Ungeduld das alte Drama repetieren, ist gesorgt.
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