Gaddafi in Rage

Libyens Veto Der Auftritt des libyschen Staatschefs vor der UN-Generalversammlung wird als verstiegen und provokant gewertet. Doch seine Kritik verdient es, gehört zu werden

Er sei an dieses Pult getreten, um die UN-Charta hochzuhalten und nicht zu zerreißen, so Gordon Brown vor der New Yorker Generalversammlung. Er spielte damit auf den Auftritt des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi an, der kurz zuvor die Charta rhetorisch zerfetzt und anschließend dem Tagungsleiter zugeworfen hatte. Ein effektvoller Affront, der diplomatischen Komment großzügig auslegt. Einem britischen Premier steht es frei, darauf zu reagieren, wie er will. Doch sollte sich Gordon Brown nicht als Anwalt des Völkerrechts inszenieren und seinen Vorgänger Blair ungeschoren lassen. Der hat mit solcher Inbrunst im Irak Krieg geführt, dass sich kaum Vorkommnisse in der UN-Geschichte finden, bei denen derart gegen die UN-Charta verstoßen wurde wie mit diesem Feldzug. Im Unterschied zu Gaddafi haben Bush und Blair die UN-Charta nicht zerrissen, sondern pulverisiert.

Die britische Regierung des Jahres 2003 war willfähriger Kolporteur gefälschter Dokumente über irakische Waffenlager, mit denen der damalige US-Minister Colin Powell am 5. Februar aufwartete, um sich an den Krieg heran zu robben. Dieser Auftritt fand nicht irgendwo statt. Dazu wurde der Weltsicherheitsrat missbraucht. Solange sich eine US-Delegation nicht für dieses Sakrileg entschuldigt, sollte sie in der Generalversammlung sitzen bleiben, wenn Gaddafi redet.

Mit der gewohnten ästhetisierenden Entrüstung wird der libysche Staatschef nun wieder zum verschrobenen Exoten erklärt und auf den notorischen Provokateur reduziert, um auf seine Argumente nicht eingehen zu müssen. Doch Gaddafi ist im Recht, es einen Skandal zu nennen, dass kein afrikanisches Land (wie kein lateinamerikanisches, ließe sich ergänzen) auch nur in die Nähe eines Ständigen Sitzes im Sicherheitsrat kommt. Er ist im Recht mit seiner Kritik an einer sich über die Zeit schleppenden UN-Reform. Weil das so ist, gerät das Veto-Recht in Verruf und steht im Verdacht, Relikt einer Weltordnung zu sein, die nicht mehr existiert.

Vergessen wir nicht, diese Weltordnung wurde 1945 auch deshalb ausgerufen, um nach einem Weltkrieg die Welt wieder ordnen können. 45 Jahre lang regulierten dann Existenz und Gegensatz der Supermächte jeden Konflikt. Es galt das Axiom, das Gleichgewicht des Schreckens darf nicht aus der Balance geraten. Seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt und eine Globalisierung grassiert, die nichts anders ist als der globale Vollzug des Weltmarktes für alles und jeden, erleben wir, was Karl Marx einmal „das Ausgreifen der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat hinaus“ genannt hat. Folglich stempelt transnationales Wirtschaftsleben eine hierarchisch geordnete Weltorganisation zum Anachronismus, der Staaten erster (ständige Mitglieder des Sicherheitsrates), zweiter (zeitweilige Mitglieder) und dritter Klasse (Nichtmitglieder) vereint. Ein objektiver Tatbestand. Ob nun Mummar al-Gaddafi darüber klagt oder nicht, ob er erhört wird oder nicht – sich dem Veto der Nicht-Veto-Macht Libyen zu entziehen, hieße die Welt ignorieren, in der wir leben.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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