Haben wir so gelebt?

Vorurteil Mit „Graustufen“ ist wieder ein retrospektiver Blick auf den ach so erbarmungswürdigen DDR-Alltag fällig
Ausgabe 06/2018

Der Zweite Weltkrieg hat in Schwarz-Weiß stattgefunden, bis die Amerikaner von Westen kamen und als Sieger Farbkameras im Gepäck hatten. Der Palast der Republik in Ostberlin ist ORWO-color gewesen. Erst als er verrottete, dann abgerissen wurde, konnte er sich Kodak-farben zeigen. Adenauer, Erhard, schwarze-weiße Gestalten, die Schüsse auf Kennedy in Dallas – bunt, dank Abraham Zapruders wackeligem Film. Erinnerung ist gefärbt und die DDR als niemandes Land inzwischen ein solches Niemandsland, dass sie in Schwarz-Weiß gut bedient ist. Minimalismus garantiert das historisch korrekte, grau getönte Erinnern. Dem Fotografen Jürgen Hohmuth und seinem Buch Graustufen sei dies nicht als Absicht unterstellt, aber der Effekt stellt sich ein.

Es fallen Bilder von solcher Tristesse über den Betrachter her, dass es ein bisschen zu viel des Schlechten und Maroden aus dem DDR-Alltag sein könnte. Öde Straße, bröckelnde Balkone, der Hinterhof als Schlucht, Briketthaufen wie Dreckhaufen, im Containerschrott spielende Kinder, mit Konserven und Parolen dekorierte Schaufenster, Einschusslöcher vom letzten Krieg, die obligate Schlange vorm Bäcker (der noch keiner Back-Factory weichen musste), die Gesichter älter als die Menschen, von Verdruss und Schicksal geflutet. Das Leben ein Trauerspiel, in Ewigkeit, amen! Der Umzug aus diesen Tretmühlen des Jammers ins Neubauviertel war selbstredend kein Einzug ins Paradies, sondern ins Arbeiterschließfach, in die „Fickzelle mit Fernheizung“, wie uns Heiner Müller Bescheid stieß.

Der Geruch von Sellerieknollen

„Haben wir so gelebt? In diesem Grau?“, fragt die Schriftstellerin Regina Scheer im Vorwort. Glücklich durfte sich schätzen, wer in dieser Gespensterbahn nicht aus der Lore fiel wie der DDR-Kinderbuchheld Alfons Zitterbacke, der auf dem Rummelplatz – beladen mit Drachenkopf und Hexenschopf aus Pappmaschee – durch das Gruselkabinett tappt und den Ausgang sucht.

Ein gewisses Unbehagen ist kaum zu unterdrücken beim Durchblättern von Hohmuths „Es-war-einmal-Universum“. Welches Maß an Selbstdisziplin, fragt man sich, ist nötig, um die Deutungshoheit über das verblichene System nicht über Gebühr anzutasten? Sicher, diesen Abbildungen kann das Authentische nicht bestritten werden – aber sind sie deshalb wahr? Haben sie nicht eher die Wirkung von Morsezeichen, die nur zu entschlüsseln vermag, wer das Morsealphabet beherrscht und an Ort und Stelle – im einstigen DDR-Alltag – erlernt hat? Wem das verwehrt oder erspart blieb, dem wird dieses Buch bei Verriss und Vorurteil hilfreich sein. Man kann bei solcher Guckkasten-Objektivität die eigene westdeutsche Vita aufs Schönste herausputzen.

Es heißt an einer Stelle, die dargebotenen Sujets ließen teilhaben „am Normalleben der Normalmenschen im Normalland“. Dem wäre zu entgegnen, dass die Auswahl weitgehend darauf bedacht ist, ein ähnliches, oft subkulturell angehauchtes Milieu zu spiegeln wie Ostberlins Prenzlauer Berg im Originalzustand, als der noch kein Bionaden-Biotop war. Dass der Beschauer trotzdem nicht ermüdet, verdankt sich der Komposition von Graustufen, die zur Navigationshilfe taugt. Jedem Foto sind Texte (oder Gedichte), u. a. von Jochen Schmidt, Hans-Eckardt Wenzel, Jürgen Rennert, Ingo Schulze oder ehemaligen Freitag-Autoren wie Kerstin Hensel, Jutta Voigt und Christoph Dieckmann zugeordnet. Mit Etüden wie Takt und Ton oder Moped kostet Rammstein-Keyborder Flake den persönlichen Erinnerungsfundus aus. Auch werden literarische Miniaturen aus anderen Kontexten bemüht, um Bildern einen Resonanzboden zu verschaffen. Etwa durch Marion Brasch, die mit einer Episode aus ihrem Buch Ab jetzt ist Ruhe vertreten ist.

Die Reflexionen wirken stimmungsaufhellend, wenn sich die Kostüm- und Bühnenbildnerin Sabine von Oettingen der Heimatkunde Ost verschreibt, um über Heimatgefühle zu schreiben. „Sehe ich die Bilder, rieche ich den winterlichen Kohlenduft (... ), die Fettbude des Broilerverkäufers, ich weiß genau, wie ein Gemüseladen von innen riecht: nach Sellerieknollen, Erde, Äpfeln und dem Klebstoff, mit dem die Etiketten auf die Rhabarbersaftflaschen geklebt wurden.“ Der Sänger und Regisseur Hans-Eckardt Wenzel hält Pole damaligen Lebens für „Pole der Welt“ zwischen „Liebe und Einsamkeit, Willkommen und Abschied, zwischen Hoffnung und Verzagen, Trunkenheit und Klarsicht“. Er erinnert sich einer Aufführung mit Mühsam-Texten an der Berliner Volksbühne. Als die in den 1980er Jahren auf der Kippe stand, sei das ein Zeichen der Aufmerksamkeit gewesen, „die unserer Arbeit gezollt wurde (manchmal muss ich heute lächeln über diesen Umstand, da uns die heilige Ignoranz umspielt wie der Gesang der Sirenen Odysseus) ...“

Die Bild-Text-Synthesen lassen erkennen, wie Grautöne zu Zwischentönen animieren. Mit denen wird laut, was derzeit gern mit dem Etikett „Ost-Identität“ versehen wird. Nur ist das schon ein Indiz dafür, dass dem ostdeutschen Narrativ nach jahrzehntelangem Verleugnen und Selbstverleugnen mehr Zuwendung vergönnt ist? Soweit dies für die lebensweltliche Sphäre gilt, mag das so sein. Nur legen Bücher wie Graustufen eben auch nahe, welches Narrativ Priorität genießt.

Erinnerungen sind wie das Leben ein flackerndes Licht und unterliegen konjunkturellem Einfluss. Die russische Dichterin Anna Achmatowa (1889 – 1966) schrieb in ihrem Poem ohne Held: Schon wenige Jahre nach der Oktoberrevolution erzählten die Leute, der Zar sei immer mit einer goldenen Kutsche herumgefahren, obwohl sie wussten, dass es sich um eine Lüge handelte. Welch hanebüchener Unsinn werde erst in 50 oder 100 Jahren verbreitet? Bei den handelsüblichen DDR-Reminiszenzen ging es mit den Märchen und Mythen viel schneller. Was Chronisten wie Hohmuth kaum zu verantworten haben. Sein Thema sind die kleinen Leute, seine künstlerische Fotografie steht in der Tradition von Helga Paris, Ute Mahler, vor allem Arno Fischer. Nimmt man dessen grandiose Fotosammlung Situation Berlin. 1953 – 1960 zur Hand, fällt der Unterschied ins Auge. Fischer tastete sich mit seinen Bildern an ein Urteil über die Zeit heran, die er porträtierte – Hohmuth hat es gefällt.

Graustufen. Leben in der DDR in Fotografien und Texten Jürgen Hohmuth (Hg.) Edition Braus 2017, 144 S., 29,95 Euro

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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