Im Hochdruckkessel

Kirgistan Chaos und Anarchie im zentralasiatischen Hinterland des Afghanistan-Krieges erlauben einen Vorgeschmack auf die Zeit nach dem Abzug der NATO, sollte es je dazu kommen

Erlauben die Eruptionen in Kirgistan eine Vorahnung von der „Zeit danach”, den mutmaßlich unruhigen Jahren in Zentralasien, sollten die USA und die NATO irgendwann tatsächlich aus Afghanistan abziehen? Gewiss in mehreren Stufen und nicht bis zum letzten Mann – mehr als eine episodische Militärpräsenz dürfte am Hindukusch verbleiben. Dafür ist der Partner Pakistan zu sehr der islamistischen Versuchung unterworfen, liegt Iran nicht weit genug entfernt, haben China und Russland ausgeprägte geostrategische Interessen, erscheint – siehe Kirgistan – die Region zu instabil, als dass die Amerikaner diese Vektoren ignorieren werden.

Wie so oft in der Geschichte ist nicht nur der Krieg, erst recht sein Ende, eng mit dem Schicksal von Anrainer-Staaten verwoben. Im Norden Afghanistans gehören dazu Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Fünf postsowjetische Republiken, die einen festen Part in der Versorgungslogistik der NATO haben. Ohne sie gäbe es keinen ausreichenden Nachschub für die ISAF-Verbände, ob es sich um Waffen und Munition, um Lebensmittel oder andere Versorgungsgüter handelt. Die Regierungen in Astana, Bischkek, Duschanbe, Aschchabad und Taschkent vergaben Überflugrechte, öffneten Transitrouten, stellten Militärbasen in Usbekistan (Termez), Kirgistan (Manas) und Tadschikistan (Kuljab, Duschanbe) zur Verfügung. Es war NATO-Hilfe zu verdanken, dass in Tadschikistan eine Infrastruktur entstand, die den jederzeit passierbaren Afghanistan-Korridor ermöglichte.

Blockaden und Barrieren

Nicht nur die fünf Staaten an sich, auch ihre autoritären Regimes erfuhren als Partner des Westens eine strategische Aufwertung. Der usbekische Präsident Islam Karimow, der tadschikische Staatschef Emomalii Rahmon oder Saparmurat Nijasow, der 2006 verstorbene „Vater aller Turkmenen“, wussten sich als Garanten regionaler Stabilität geschätzt wie nie seit der Unabhängigkeit ihrer Länder 1991. Sie kamen nicht länger als Adressaten westlicher Menschenrechtsappelle in Betracht – sie stiegen zu Etappenhengsten und Juniorpartnern des Krieges am Hindukusch auf. Nun aber könnte es mit dieser Herrlichkeit demnächst vorbei sein, wenn der Schutzpatron sich rar machen muss.

Der Erosion Kirgistans – vorrangig die Mordorgien von Osch und Jalalabad – bezeugen, dass die Einbindung in die Afghanistan-Politik des Westens einen unilateralen Politikstil begünstigt hat, der etwa in der Drei-Länder-Region des Fergana-Tals zu strikter Abschottung führte. Hatten die dortigen Grenzen zwischen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan zu Zeiten der Sowjetunion rein administrativen Charakter, wurden sie im vergangenen Jahrzehnt zu kaum überwindbaren Barrieren. Es gab plötzlich eine gegenseitige Visumspflicht und keinen kleinen Grenzverkehr mehr. Die usbekische Regierung verminte Teile der Demarkationslinie zu Kirgistan und zog diese Sprenggürtel mancherorts quer durch traditionelles kirgisisches Weideland, was nomadisierende Hirten wie den Transport von Südfrüchten aus Kirgistan nach Russland behinderte. Man fühlte sich bei dieser Abkehr voneinander durch das EU-Zentralasien-Programm ermutigt, das mit einem Border Management in Central Asia (BOMCA) die Ausbildung von Grenzpolizei ebenso abdeckte wie den Transfer von Sicherungstechnik. Aus Grenzen wurden Schutzwälle gegen die muslimische Infiltration aus Afghanistan, wie sie Taschkent wegen der im afghanischen Asyl operierenden Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) besonders fürchtet. Mit den Grenzen wuchsen Bollwerke gegen die ungeliebte Nachbarschaft. Wenig überraschend haben sich in Osch, dem reichsten Distrikt im Fergana-Teil, ökonomische Rivalität und ethnische Zwietracht zwischen Kirgisen und Usbeken in gewalttätiger Raserei entladen. Was sollte man erwarten nach dieser Art von Evolution im Schatten Afghanistans?

Kommen und Bleiben

Niemand kann vorhersagen, wer in Kabul um 2015 herum regiert. Ob es wieder zu verzehrenden Machtkämpfen kommt wie zwischen 1989 und 1996 nach dem Abgang der Sowjets. Ob die Taliban mit einigen Alliierten oder allein ein Kalifat ausrufen wie nach der Einnahme Kabuls im September 1996. Auf jeden Fall wird die Virulenz der afghanischen Zustände die Nachbarschaft nicht schonen und den Hang zum Isolationismus anregen. Dies um so mehr, als dem Mäzenatentum der NATO das Motiv abhanden kommt. Die zentralasiatischen Paten des Afghanistan-Krieges müssen befürchten, wie arme Tölpel dazustehen, falls der große Deckel vom Hochdruckkessel fliegt. Zerstörerischer womöglich als gerade in Kirgistan. Wie sollten Usbekistan, Tadschikistan und die anderen Länder nach dem Ausleben einer konfrontativen Distanz quasi über Nacht wieder zu kooperativer Harmonie finden? Sie haben es verlernt, bei ihrer Außenpolitik mehr im Blick zu haben als nacktes nationales Interesse!

Insofern war Russland gut beraten, jedem militärischen Engagement in Kirgistan zu entsagen. Wer eingreift, läuft Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten und in eine Peace-Enforcement-Mission zu schlittern, die mehr als opferreich sein kann. Als Ordnungsmacht kann Russland den Ohnmachtsstaat Kirgistan nicht ersetzen. Auch ein Friedenskorps des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS, Mitglieder: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan, Belarus, Usbekistan) wäre überfordert. Wer jetzt in Kirgistan interveniert, muss bleiben, bis Rache und Hass eingedämmt sind. Nur, wann wird das sein? Und wer nimmt sich der 250.000 oder 400.000 Flüchtlinge an? Wer schützt sie? Wer verschafft ihnen eine neue und vor allem sichere Existenz? Es könnte sein, dass sie in Usbekistan wie Kirgistan auf absehbare Zeit zu Heimatlosen wurden.

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