Späte Ernte schneller Siege

Die EU der 25 So subversiv kann Geschichte sein

Es ist gewiss Zufall, dass dem Westen die Lorbeeren des Sieges von 1990 nochmals in solcher Pracht um die hohe Stirn gelegt werden wie in diesem Frühjahr innerhalb eines einzigen Monats. Am 2. April wurden in Brüssel sieben weitere Staaten aus Osteuropa in die NATO aufgenommen, darunter die einstigen Sowjetrepubliken Estland, Litauen und Lettland, ebenso die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien, die sich den 1999 beigetretenen Ungarn, Tschechen und Polen hinzu gesellen. Am 1. Mai werden Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien sowie auch hier die drei baltischen Staaten die Europäische Union aufstocken. Man könnte meinen, der Warschauer Pakt marschiert, ohne Führungsmacht zwar, aber nicht kopflos, da mit Sinn für die Wirkung einer geballten Ladung. Er stößt nach Westen vor, wie es dort immer prophezeit und befürchtet wurde.

Dabei schien der Osten 1990 bis auf weiteres besiegt, auch wenn er - wie sich das für zivilisierte Sieger gehörte - nicht erobert wurde. Soll die Eroberung nun nachgereicht werden, gar von den Besiegten selbst? Wollen sie sich vom Sieger belohnt sehen und mit ihm die Früchte des Sieges teilen dürfen? Vieles spricht dafür und bezeugt keine kapriziöse Laune der Geschichte, sondern die Logik eines wahrlich historischen Triumphes, der nicht dem Vernichtungswerk eines Krieges, sondern der Verdrängungskraft einer Ökonomie zu danken ist. Folglich liegen die Verlierer nicht unter Trümmern, sondern haben einigermaßen wohlbehalten überlebt, um den Sieger in eine, nicht nur dem Anschein nach langlebige Tributpflicht zu nehmen. So subversiv kann Geschichte sein.

Mit der Osterweiterung der EU wird die späte Ernte des schnellen Sieges von 1990 eingefahren, auch wenn die Scheuern zu bersten drohen. Will heißen, dass diese Ostausdehnung auch auf Überdehnung hinauslaufen könnte. Mit dem Zuzug der acht aus dem Osten muss der Westen theoretisch aufgeben, was ihm bisher heiliger als heilig war - den gewissen kleinen Unterschied, von dem nicht nur ein Gefühl der Überlegenheit zehrte, sondern eine ganze Weltanschauung ernährt sein wollte. Freilich sind Vorkehrungen getroffen, dass sich herrschendes politisches Bewusstsein dieser Wende ähnlich kategorisch verweigert, wie das seit dem 3. Oktober 1990 in Deutschland der Fall ist.

Schanzarbeiten, um Barrieren zu errichten und die Neuzugänge auf Abstand zu halten, sind im Gange. Besonders nach dem gescheiterten Brüsseler Verfassungsgipfel vom Dezember 2003 finden Frankreich und Deutschland - mit wechselnden Nuancen, versteht sich - Gefallen an einem Europa der eins, zwei, drei Geschwindigkeiten. Dem lässt sich entnehmen, was ohnehin unstrittig ist: Von ihren Führungsmächten wird die EU nicht als klassenlose Gesellschaft verstanden, sondern als geordnete Hierarchie, in der die Rechte der Stärkeren nicht von den Rechten der Gemeinschaft abgehängt werden dürfen. Die in der Union waltende "Verteilungsgerechtigkeit" gewährt demnach den Bedürftigen nicht, was sie brauchen würden, um diese Hierarchie aufzubrechen, sondern bekommen müssen, um sich darin versorgt zu fühlen. Die permanente Reproduktion einer regulierten europäischen Marktwirtschaft sozusagen, die einer EU-25 schwerer fallen wird als einer EU-15.

Die Neu-Mitglieder werden dabei eine Erfahrung bestätigt finden, die ihnen schon in den Beitrittsverhandlungen zuteil wurde - ihre 1990 errungene nationale hat einer vergemeinschafteten Souveränität zu weichen. Sie könnten versucht sein, diesen Verlust zu kompensieren, indem sie ihr wirtschaftliches Leichtgewicht durch politische Kraftakte austarieren. Wie einfach es sein kann, das Pendel des Pragmatismus zwischen Westeuropa und Nordamerika kräftig ausschlagen zu lassen, hat der Irak-Krieg gezeigt: Von den acht osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten stehen bis heute sechs mit eigenem Militär in der "Koalition der Willigen". Von den 15 Altmitgliedern der EU sind es (mit Spanien) fünf - die Relation ist eindeutig. Wer weiß denn, welche Möglichkeiten der Warschauer Pakt noch sucht, um - rein zufällig natürlich - zu jener Geschlossenheit zurück zu finden, die ihn einst so schön gefährlich machte.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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