Sprengsatz Kerneuropa

Fliehkräfte Mit mehr deutsch-französischer Konvergenz lässt sich die EU-Erosion nicht aufhalten – im Gegenteil
Ausgabe 06/2017

Nach seinem Durchmarsch bei den Primärwahlen des Mitte-rechts-Lagers nannte der Figaro den Präsidentenbewerber François Fillon „einen stillen und seriösen Rechten“. Seit den Bewerber die Affäre um die Scheinbeschäftigung von Familienmitgliedern bedrängt, wirkt die persönliche Integrität des „seriösen Rechten“ freilich arg ramponiert. Wer den politischen Anstand verletzt, hat den Anspruch auf das höchste Staatsamt schnell verwirkt. Müsste Fillon aufgeben, wäre das nicht nur ein Schlag für die rechtskonservativen Republikaner und käme Marine Le Pen vom Front National (FN) wie dem unabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron zugute, auch für das deutsch-französische Verhältnis entfiele eine mögliche Metamorphose zum marktliberalen Projekt mit europäischem Kollateraleffekt.

Was Fillon bisher an Programmatik von sich gab, deutet auf viel Nähe zur Agenda-Politik, wie sie einst von Rot-Grün unter Kanzler Schröder begründet wurde. Als Präsident will er die 35-Stunden-Woche endgültig kippen, ein von 62 auf 65 Jahre erhöhtes Rentenalter, ab 2017 100 Milliarden Euro an Staatsausgaben streichen, einen weiter flexibilisierten Arbeitsmarkt und eine von 20 auf 22 Prozent steigende Mehrwertsteuer. Nicht auszuschließen, dass eine solche Agenda der deutsch-französischen Achse zu neuer Sinnstiftung verhilft. Ob sie der EU mehr Kohärenz verschafft? Zweifel sind angebracht. Überdies hat Fillon staatlichem Interventionismus nicht so weit abgeschworen, dass ihm der deutsche Sparfrack wie angegossen passt. Er ist überdies bei aller Austerität zugleich ein Freund supranationaler Institute in der Eurozone, wie sie schon die heutige IWF-Direktorin Christine Lagarde als Wirtschaftsministerin von Nicolas Sarkozy für wünschenswert hielt und damit in Berlin auf so gar keine Gegenliebe stieß. Sie favorisierte eine europäische Wirtschaftsregierung, die nun auch Fillon für nötig hält, um sich in der Währungsunion harmonisierten Steuersystemen zu widmen, einer homogenen Investitionspolitik wie dem Schuldenabbau. Frankreich braucht besonders Letzteres, sollen nicht Rating-Agenturen dem Land fortwährend eine schwindsüchtige Kreditwürdigkeit quittieren, was bei einer Staatsschuld von fast 100 Prozent des BIPs nur logisch ist.

Bei seinem Berlin-Besuch am 24. Januar beklagte Fillon, die deutsch-französische Partnerschaft sei „noch nie so leer und schwach wie heute“ gewesen. „Aber von unserem Mut hängt das Schicksal unseres Kontinents ab.“ Nur welches? Schon François Hollande war in der Frühphase seiner Präsidentschaft mit dem Verlangen gescheitert, nationale Schulden kollektiv aufzufangen – etwa durch Eurobonds, für die alle Eurostaaten bürgen, inklusive Deutschland. Dieses Unterfangen wie die Ikone „europäische Wirtschaftsregierung“ hat Berlin bisher stets mit einem Gegenvorschlag pariert – dem „europäischen Wirtschaftskommissar“, der mit einem Vetorecht für nationale Haushalte ausgestattet ist, also auch für den französischen Etat.

Selbst wenn Mutmaßungen über einen Präsidenten Fillon womöglich nur noch von theoretischem Wert sind, taugt das Paradigma eines marktliberalen Tandems Berlin-Paris (in dessen Pedale auch ein Emmanuel Macron treten könnte), um den Irrglauben zu widerlegen, deutsch-französische Partnerschaft diene automatisch der Einheit Europas – es gäbe eine selbstverständliche Synchronität von bilateralem Handeln und multilateralem Vorteil. Sicher waren Zustand und Aura der deutsch-französischen Allianz stets in einem europäischen Kontext zu verorten, aber wie sie den beeinflussten, das geriet höchst unterschiedlich. Sie konnte vereinen und spalten. Und das oft gleichzeitig. Bedenkt man, dass eine EWG (später EG) auf kapitalistischer Basis und als Wirtschaftspakt die Ost-West-Teilung des Kontinents zementierte, so nutzte sie doch zugleich den Kalten Krieg als Klammer für die Einheit Westeuropas als Block.

Stunde der Dissidenten

Ist man von solch existenzieller Grundierung europäischen Daseins weit entfernt, wird nach den Folgen von mehr marktliberaler Konvergenz zwischen Berlin und Paris, Merkel und Fillon oder Macron gefragt? Was bewirkt sie angesichts des Nord-Süd- und Ost-West-Konflikts in der EU? Würde nicht vielen Mitgliedsstaaten bescheinigt, als Peripherie abgeschrieben zu sein? Eine „Kerneuropäisierung“ deutscher Agenda-Politik brächte Ost- und Südeuropa nicht nur weitere Wettbewerbsnachteile, sie würde vor allem eines bestätigen: die Annäherung der Lebensverhältnisse innerhalb der Staatenunion, wie sie bei jeder Neuaufnahme versprochen wird, ist passé.

Wer daran schuld ist, das artikulieren die nationalkonservativen Regierungen in Warschau und Budapest klipp und klar: die EU und deren Kernmächte. Was dagegen zu tun ist, praktiziert diese dissidentische Klientel bereits, indem integrative Handlungsmuster geschwächt werden, ein Europa der abweichenden Geschwindigkeiten zum eigenen Vorteil genutzt und so Interventionsmacht generiert wird, nicht nur in der Migrationspolitik. Das heißt, die deutsch-französische Achse mit ihrem territorial bedingten wie politisch naheliegenden kerneuropäischen Akzent kann derzeit die Erosion der EU nur beschleunigen.

Das war nicht immer so. In den Jahrzehnten einer integrativen Evolution von 1957 bis 1992, zwischen den Römischen Verträgen der EWG und den Maastricht-Verträgen der EU, konnten Bonn wie Paris durchaus Taktgeber einer wachsenden Staatenunion sein, auch wenn die zugrunde liegenden Motive ein Eigenleben führten. Während Präsident de Gaulle im Namen der V. Republik die kriegerische Geschichte zwischen beiden Nationen als Auftrag zur Versöhnung deutete, kam es für die Bonner Republik darauf an, dank französischer Fürsprache historisch rehabilitiert zu werden und in Westeuropa als Staat zu gelten, der mitnichten eine Rückkehr zur rabiaten Hegemonie unseligen Angedenkens wolle. Es entsprach diesem Ansinnen, Frankreich bis in die jüngste Vergangenheit hinein ein Vorrecht auf symbolträchtige „europäische Mandate“ einzuräumen. Man denke an Robert Schuman und Jean Monnet mit ihrem Anteil an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dem Vorläufer der EWG. Oder Jacques Delors, der zwischen 1985 und 1995 als Präsident der Europäischen Kommission eine stagnierende Integration überwinden half. Später präsidierte Ex-Staatschef Giscard d‘Estaing den Verfassungskonvent, mit dem der EU nach 2000 eine Magna Charta in Aussicht stand. Giscard scheiterte nicht zufällig daran, dass in seinem Land der supranationale Integrations- mit einem nationalen Identitätsanspruch kollidierte. Eine EU-Verfassung ging einer Mehrheit der Franzosen gegen den Strich, so dass im Mai 2005 55 Prozent dagegen und nur 45 Prozent dafür stimmten. Man sprach von einer „Niederlage für Frankreich und Europa“, was sicher zutreffend war, aber die Botschaft dieses Begehrens nur teilweise erfasste. Das Unbehagen über den bereits spürbaren deutschen Euro-Nationalismus blieb unbeachtet. Mit welchem Resultat müsste man 2017 rechnen, würde nach einer EU-Konstitution gefragt?

So wie Präsident de Gaulle einst Kanzler Adenauer die europäische Absolution erteilte und damit etwas für die Einheit Westeuropas zu tun gedachte, hielt es Präsident Mitterrand, als er Kanzler Kohl 1990 die deutsche Einheit zugestand – und einem Irrtum erlag. Er glaubte, ein zu mächtiges Deutschland in Europa lasse sich verhindern, wenn die DM dem Euro weichen müsse – der sei ein Faustpfand gegen einseitige Dominanz. Danach konnte sich Frankreich nie mehr von Deutschland emanzipieren. Europa blieb das erst recht versagt, sein sozialer Zusammenhalt als Basis kontinentaler Einheit war verspielt.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Geschrieben von

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden