Stetig rieselt der Putz

EU Die USA beschleunigen ihr Disengagement in Europa, das allein deshalb näher zusammenrücken sollte. Tut es aber nicht, wie der jüngste EU-Gipfel gezeigt hat
Ausgabe 11/2017
Donald Tusk kann besser mit der deutschen Kanzlerin als mit der eigenen Regierung
Donald Tusk kann besser mit der deutschen Kanzlerin als mit der eigenen Regierung

Foto: Leon Neal/Getty Images

Wenn Donald Trump der deutschen Kanzlerin nach deren Washington-Besuch hinterher funkt, ihr Land solle endlich die Schulden gegenüber der NATO und den USA bezahlen, gehört das ins Fach diplomatischer Affront. Doch sollte dieses Urteil nicht dazu verführen, die politische Botschaft zu überhören oder gar zu ignorieren.

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Donald Trump wirkt entschlossen, sein Disengagement in Europa zu forcieren. Es liegt in der Debatte über die Rüstungsetat der NATO-Staaten so viel Zündstoff und zentrifugales Potenzial, dass es die Allianz lange genug beschäftigen wird, um auch dem letzten europäischen NATO-Staat zu Bewusstsein zu bringen, dass mit den USA nur noch bedingt zu rechnen ist – bei der Abwehr der islamistischen Herausforderung im Nahen Osten schon, bei den damit auch für Europa wachsenden Gefahren wohl nur bedingt. Gerade hat US-Außenminister Rex Tillerson seine Teilnahme am NATO-Außenministertreffen Anfang April abglehnt.

Für die Staaten der EU wäre allein aus diesem Grund mehr innerer Zusammenhalt geboten. Tatsächlich verhindern das innere Spannungen wie Ressentiments, die inzwischen auch eine irrationale Tönung haben können, wie der jüngste EU-Gipfel am 9./10. März in Brüssel erfahren ließ.

Eigentlich schien bei diesem Europäischen Rat ein Vorgang wenig geeignet, Erosionspanik zu schüren. Im Gegenteil, wenn auf einem EU-Spitzentreffen mit 27 zu einer Stimme Donald Tusk als EU-Ratspräsident bestätigt wird, bezeugt das Handlungsvermögen. Zu verdanken war das nicht zuletzt dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit, wonach seit einer Reform von 2003 bei Entscheidungen wie dieser nicht mehr einstimmig votiert werden muss.

Eindruck der Zerrissenheit

Weshalb blieb trotzdem das Gefühl, es riesele stetig Putz von der Decke, so verlässlich und dicht, dass deren Einsturz nur eine Frage der Zeit und Flucht geboten scheint? Nur wo soll man hin? Der EU wird zweierlei attestiert: Sie sei in einem kritischen Stadium, bleibe aber ungeachtet dessen alternativlos. Sie werde sich retten müssen, weil Europa sonst rettungslos verloren sei. Da geriet die eigenwillige Intervention eines Mitglieds schnell in die Nähe von vorsätzlicher Destruktion und bediente den Eindruck von Zerrissenheit.

Warum das so ist? Unter anderem deshalb, weil nach dem von der EU-Kommission jüngst präsentierten Weißbuch zum Zustand der Gemeinschaft ungerührt vom Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geredet wird. Sprache kann ein Versteck sein, aber diese versteckt gar nichts. Sie sagt, in einer solchen Union wären Kernstaaten wie Deutschland oder Frankreich prädestiniert, die Überholspur zu besetzen, während die Fußkranken an der Peripherie wie Griechenland, Bulgarien oder Portugal (auch Polen?) zusehen dürfen, wie sie beim Tanz ums Goldene Kalb der Wohlfahrt und des Wettbewerbs nicht schlappmachen.

Wer glaubt ernsthaft daran, dass die vor aller Augen Abgehängten ihr Abgehängtsein als Dienst an Europa begreifen? Dass Polen auf dem jüngsten EU-Gipfel nicht zum Rottenführer der Andersdenkenden wurde, hatte mit dem Anlass des Aufruhrs, der Neigung zum egozentrischen Störfeuer wegen einer Personalie zu tun.

Bei der Finanz- oder Flüchtlingspolitik, der Frage nach dem Einfluss Brüssels auf Mitgliedsländer, die dem Rechtsstaat Unrecht tun, hätte das anders aussehen können. Zumal die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Warschau da erheblich unter Druck steht. Den möchte sie logischerweise nicht durch Donald Tusk potenziert wissen, einen Favoriten der deutschen Kanzlerin, der bisher als Ratspräsident deutsche Dominanz in der EU willig akzeptierte, das autoritäre Gebaren der PiS-Regierung von Beata Szydło aber strikt attackierte.

Vermessenheit aushalten

Es sei nicht vergessen, Tusk ist und bleibt polnischer Politiker. Auch wenn seine Parteimitgliedschaft ruht, gilt er weiter als Galionsfigur der Bürgerplattform (PO) und damit eines erklärten Gegners der PiS. Die Ratspräsidentschaft verschafft ihm Reputation und Format. Kehrt er danach in seine Heimat zurück und kandidiert bei der Präsidentenwahl 2020 gegen den jetzigen Amtsinhaber und PiS-Exponenten Andrzej Duda, kann die EU-Expertise von Vorteil sein.

Darauf wetten sollte man angesichts der EU-Ressentiments in Polen jedoch nicht. Schließlich handeln führende PiS-Politiker nicht im Affekt, sondern lieben den Affront gegenüber dem Brüsseler Establishment, um eigenen Anhang zu beeindrucken und einen Belagerungszustand zu simulieren, gegen den nationale Eintracht gebraucht wird. Drinnen und draußen Gegner zuhauf, selbst in der EU, kalte Schultern, kalte Blicke – Welt- als Zerrbilder.

Wozu wird es führen, wenn der Staatenbund darauf angewiesen ist, diese Vermessenheit auszuhalten?

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