Süß scheint Krieg den Unerfahrenen

NATO-Gipfel Die Allianz setzt auf „Vorwärts-Präsenz“ und westliche Brückenköpfe in Osteuropa. Russland soll weiter isoliert werden
Ausgabe 27/2016

So viel kann sicher vorhergesagt werden, die deutsche Delegation beim NATO-Gipfel in Warschau wird ein Bild der Geschlossenheit abgeben wie die gesamte Allianz der inzwischen 28 Mitgliedstaaten. Mit Sondervoten etwa von Frank-Walter Steinmeier im Abschlusskommuniqué ist kaum zu rechnen. Die minimale Schwankungsbreite deutscher Außenpolitik wurde maximal ausgereizt, als der Minister vor zwei Wochen der NATO eine fatale Lust am „Säbelrasseln“ gegenüber Russland bescheinigte. Sehr viel anders hätte es der Kollege Lawrow auch nicht formuliert. Oder Wladimir Putin gar.

Es klang fast so, als urteile Steinmeier nicht als Außenminister, sondern als Außenstehender über einen NATO-Kurs, der sein Missfallen erregt. Was unter anderem dem Vorhaben gelten dürfte, ab Anfang 2017 vier multinationale Kampfeinheiten mit 4.000 Soldaten nach Polen sowie in die drei baltischen Staaten zu verlegen und diese Stationierung als „Vorwärts-Präsenz“ auszulegen. Was stark an die „Vorneverteidigung“ erinnert, mit der die NATO zu Zeiten des Ost-West-Konflikts mutmaßliche Aggressoren aus dem Osten zu zügeln wünschte.

Lead Nation in Litauen

Vorspiel der beabsichtigten Dislozierung war Mitte Juni das Manöver Anaconda, zu dem in Polen 31.500 Soldaten aus 24 NATO-Ländern zur größten Militärübung des Nordatlantikpaktes seit 1990 antraten. Der selbstbewusste Gastgeber hatte zusätzlich Militärs aus Georgien und der Ukraine geladen, was in Berlin für Unwillen sorgte und als Störung der deutschen Mediation zwischen der Ukraine und Russland gedeutet wurde. Auch das könnte Steinmeier zum rhetorischen Veto getrieben haben. Nur was folgt aus solcherart Intervention? Geht Deutschland auf Distanz zum strategischen Kompass, der auf die Rückkehr zu klassischen Instrumenten der Abschreckung (deterrence) weist, wie sie den Warschauer NATO-Gipfel am 8./9. Juli beschäftigen werden? Dass Deutschland dem offen und klar widerspricht, ausgerechnet in Polen, gehört ins Reich der verwegenen Annahmen. Kanzlerin Merkel hat bisher nicht mit dem leisesten Zweifel auf die Eskalationsdynamik im Bündnis reagiert. Man ließ sich gar als Lead Nation für den NATO-Truppentransfer nach Litauen verpflichten – neben den USA in Lettland, Großbritannien in Erstland und Kanada in Polen. Letzteres wird offiziell mit einer starken ukrainischen Minderheit zwischen Ottawa und Vancouver begründet und sorgt bei Polens rechtsnationaler Regierung für wenig Beifall. Wer sich so bedroht wähnt wie PiS-Chef Jarosław Kaczyński und Milizen als Volksheer aufstellt, der erwartet, mindestens durch die NATO-Führungsmacht geschützt zu werden. Offenbar jedoch hielten es die Amerikaner für angebracht, einer Administration nicht allzu gefällig zu sein, deren verfassungsrechtliche Geisterfahrt die EU-Kommission Mitte Januar veranlasste, ein „Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit“ einzuleiten.

Ohnehin bliebe zu fragen, worauf der bereits auf dem NATO-Gipfel 2014 im walisischen Newport beschlossene Readiness Action Plan (RAP) zum Aufbau einer Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), einer superschnellen Eingreiftruppe, in Osteuropa, hinauswill. Worin besteht das strategische Motiv? Ist allein das Bedürfnis maßgebend, den drei baltischen Staaten und Polen die Gewissheit zu geben: Ihr haltet euch nicht nur selbst für Frontstaaten des Westens im Osten, die NATO tut es auch. Auf jeden Fall wäre die Bündnisräson durch den Brückenkopf-Mythos um eine Facette reicher. Es gäbe nach der ersten eine Art zweite Osterweiterung, bei der in militärischer Hinsicht vollendete Tatsachen geschaffen werden wie noch nie: Selbst wenn die neuen Einsatzverbände nicht mehr als fünf bis neun Monate an einem Ort stehen sollen – sie sind da. Sie sind Machtprojektion wie die gegen Russland gerichtete Raketenabwehr in Rumänien.

Genau hier wird die politische Agenda der „Vorwärts-Präsenz“ erkennbar. Sie hat zunächst den Effekt, das Verhältnis zu Russland weiter unter Spannung zu setzen. Womöglich als russisch-euroatlantischen Großkonflikt auf die Spitze zu treiben, sollte es zum dauerhaften Bruch zwischen Moskau und dem Westen kommen. Es muss schließlich davon ausgegangen werden, dass Aufmarsch und Aufrüstung der NATO darauf zielen, Kriege in Europa aus einer Position der Stärke heraus androhen, notfalls führen und unbedingt gewinnen zu können. Dulce bellum inexpertis – süß scheint der Krieg den Unerfahrenen (Erasmus von Rotterdam), ließe sich dazu anmerken.

Denn sollte die russische Armee – und wer sonst? – für einen solchen Schlagabtausch auserkoren sein, wird sie in einen Vaterländischen Krieg ziehen, mit Verbitterung kämpfen, vielleicht unterliegen, aber der NATO nichts schenken – bis hin zur thermonuklearen Konfrontation. Was sollte Russland noch verlieren, was es nicht seit 1990 schon verloren hat? Es ist ein Punkt erreicht, an dem weitere Verluste im postsowjetischen Raum über das Schicksal einer Großmacht entscheiden. Setzt der Westen darauf, dort seinen Einfluss auszuweiten, wird Russland mehr denn je als „antiwestliche Macht“ in Erscheinung treten und seinerseits jede militärische Zurückhaltung aufgeben. Die NATO wird daraus den Schluss ziehen, dass die Ostausdehung nicht nur notwendig war, sondern es verdient hat, weiter betrieben zu werden.

Axt überm Kopf

Vor dem Warschauer Gipfel wird erneut darüber spekuliert, ob nach Montenegro auch Schweden, Finnland, Mazedonien und Georgien als Neuaufnahmen in Betracht kommen. Die Ukraine wird bereits wie ein Mitglied behandelt, ohne es zu sein. Die NATO praktiziert eine „Stabilitätspartnerschaft“, indem sie der prowestlichen Regierung in Kiew zwar nicht die Rückeroberung der Ostukraine verspricht, aber sie mit einer Bestandsgarantie versieht – von allem logistischen Beistand für die ukrainische Armee, von der Rüstungshilfe und -finanzierung wie der Entsendung von Ausbildern abgesehen. Sicher wird diese Ballung von strategischer Tatkraft Europa nicht sofort in einen Kriegstaumel reißen, aber in immer neue Vorspiele desselben verstricken. Es ist der Wille vorhanden, Russland weiter zu isolieren und so unter Druck zu setzen, dass qualitative Abstriche an seinen geostrategischen Interessen unumgänglich sind.

Um auf die deutsche Außenpolitik zurückzukommen: Sie zeigt zur „Vorwärts-Präsenz“ die gleiche Ambivalenz wie seit Jahren gegenüber westlicher Interventionspolitik. Es gab 2001 die bedingungslose Gefolgschaft beim Afghanistan-Krieg, ein Nein zur Irak-Invasion im Frühjahr 2003, militärische Abstinenz bei den NATO-Angriffen auf Libyen 2011, vorsichtige Sekundanz beim französischen Eingreifen in Mali Anfang 2013. Ein Verhalten ohne Haltung, wie es auch jetzt beim kalten Vorkrieg gegen Russland zu beobachten ist. Es kann noch so oft beteuert werden, man wolle nicht nur Abschreckung, sondern gleichfalls Dialog. Keine russische Führung kann darauf eingehen, wird gegen sie fortwährend mobilgemacht. Wer die Axt über seinem Kopf spürt, der fragt kaum: Könnte der Täter nicht doch ein lieber Freund sein, der nur so tut, als ob?

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