Toter Mann am Strand

Somalia Die Piraten am Horn von Afrika sollen künftig auch an Land bekämpft werden. Die EU stockt das Mandat für die Mission "Atalanta" auf und nimmt zivile Opfer in Kauf

Vermutlich überzieht, wer von einer schleichenden Intervention am Horn von Afrika redet – vom möglichen Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Staates, der zwar seit Jahrzehnten nicht mehr funktioniert, aber ungeachtet dessen existiert. Somalias Souveränität zu achten, sollte ein Mindest­gebot des Völkerrechts sein. Davon hat die 27 EU-Staaten niemand und nichts entbunden.Warum schwingen sich dann ihre Außenminister dazu auf, die Mission Atalanta außer in den Gewässern vor Ostafrika nun auch auf dem somalischen Festland voranzutreiben? Es würden Ziele ins Visier genommen, heißt es, um Piraten-Logistik „in Binnengewässern und an den Stränden“ zu treffen.

Wo fangen „die Strände“ an, wo hören sie auf? Woran lässt sich diese Logistik erkennen? Wie unterscheidet der Bordschütze im Atalanta-Helikopter zwischen dem somalischen Fischerdorf und dem somalischen Piratencamp? Vielerorts existieren beide am gleichen Fleck. Man weiß aus Verhören gefangener Piraten, viele waren einst Küstenfischer oder kommen aus Familien, denen die Fanggründe verloren gingen, weil ihnen große Fangflotten aus dem Norden nahmen, wovon sie lebten. Es dürfte kaum zu bestreiten sein: Der Strategiewandel bei Atalanta wird zu zivilen Opfern führen. Nicht ohne Grund hat die Bundes­regierung lange gezögert, ein solches Mandat abzusegnen. Zu groß das Risiko, Kollateralschäden zu verursachen, für die man sich gewiss entschuldigen wird, die für die Betroffenen jedoch nicht entschuldbar sind.

Kreuzfahrer von heute

Die somalischen Freibeuter dürften außerdem nicht untätig abwarten, was geschieht, sondern ihr Equipment – Boote, Treibstoff und Waffen – zurückziehen und tarnen. Ihre kleinen Einheiten haben sich auf See als äußerst lernfähiges System erwiesen – sie dürften es auch an Land sein. Bleibt die Operation Atalanta bisher den gewünschten Erfolg schuldig, weil der Indische Ozean wie das Arabische Meer weiter als gefährlichstes Seegebiet weltweit gelten, liegt das nicht nur nur an fehlender Effizienz der EU-Mission. Die Gegner der in internationalen Gewässern manövrierenden Ordnungsmacht sind flexibel, mutig, unberechenbar und verwegen. Sie zu bewundern, wäre des Guten zu viel. Ihnen Respekt zu zollen, kein Fraternisieren mit der Macht des Bösen. Diese Kreuzfahrer des 21. Jahrhunderts kapern mit ihren Schnellbooten 100.000-Tonnen-Tanker und verschaffen nicht nur den Schiffseignern ein Gefühl der Verwundbarkeit. Sie beweisen, dass der römische Philosoph Lucius Seneca recht hatte, als er formulierte: „Der Mann der keine Angst hat zu sterben, wird immer dein Herr sein.“ Und sie erinnern die Staatengemeinschaft – von der UNO bis zur EU – an ihre Herkunft, an ein Land in Afrika, das sich allein auf sein Siechtum verlassen kann. Sicher muss die somalische Piraterie als Geißel der freien Schifffahrt unterbunden werden, aber es handelt sich um ein solch komplexes Phänomen, dass Europa mehr ein­fallen sollte, als militärisch einfach draufzusatteln und jede politische Lösung auszublenden. Allen Predigten über die unteilbaren Menschenrechte zum Trotz spiegelt sich im neuen Atalanta-Mandat etwas von der kühlen Missachtung nicht-europäischer Menschenleben. Wer an „den Stränden“ Somalias lebt, kann von nun an dafür bestraft werden. Ob er Pirat ist oder nicht.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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