Als 2005 eine Europäische Verfassung an Teilen des Europäischen Volkes scheiterte, schien es so, als wollte sich die EU auf ihre Anfänge besinnen und mit einem Dasein als Freihandelszone begnügen. Die Politische Union war erst einmal erledigt. Ihr fehlte es ohne Verfassung am geistigen Überbau. Sie erinnerte fortan mehr an verbale Hochstapelei als an reale Politik. Der Gedanke geriet einfach zu groß, um wahr zu sein. Allein am Brüsseler Dach der Institutionen, Behörden und Kommissionen wurde gebaut, was das Zeug hielt, so dass es bald mehr beschirmte, als es zu beschirmen gab.
Nun aber gibt es die Krise, und die zwingt zur Besinnung auf einst beschworene Tugenden. Die EU der 27 braucht den gemeinsamen Willen und findet ihn bei der Finanzmarktkontrolle. Sie plustert sich staatsbürokratisch gehörig auf, ist auf Wandel und Wende versessen. Unterwegs werden Götzen entsorgt, Schwüre gebrochen, Grundsätze guillotiniert. Es fallen freilich keine Köpfe, sondern nur Dogmen. In den Deregulierern von gestern wühlt der Drang zu durchgreifender Regulierung, wie sie in der EWG-EG-EU-Geschichte seit 1957 ihresgleichen sucht. Barack Obamas Ruf über den Atlantik, seine Radikalreform der US-Finanzaufsicht betreffend, war Mitte der Woche kaum verhallt, da produzierte der Brüsseler EU-Gipfel ein Echo, das ungemein einstimmig ausfiel. Die europäischen Aufsichtsbehörden für die Kapitalmärkte – von denen es die meisten schon vor dem Finanz-Crash gab – erhalten den krisenbedingten Ritterschlag. Besonders auf den Europäischen Rat für Systemrisiken trifft das zu. Das Gremium wird zur Frühwarnstation für Finanzmärkte erklärt. Dass da den Rating-Agenturen EU-weite Verstaatlichung winkt, ist die logische Folge. Warum sollten diese grauen Eminenzen des Lobbyismus – von niemandem beaufsichtigt als ihren Gewinninteressen – mit eigenen Expertisen die Analyse des "Risikorates" flankieren oder gar konterkarieren? Eine europäische Zentrale der Finanzaufsicht muss zuvörderst eine Autorität in Europa sein. Und das überall. Hat sie sich konkurrierender Analysten wie der Rating-Agenturen zu erwehren, wird sie zum Wettbewerber und kann nicht Seismograph der Kapitalmärkte sein.
Die EU hat in Brüssel beschlossen, was sie um ihrer selbst willen braucht, um die Krise zu überstehen. Es könnte der Eindruck entstehen, aus Schaden wird man klug. Richtig ist, aus Schaden wird man noch opportunistischer, als man ohnehin schon ist. Die eifrigen Regulierer sind keine Überzeugungstäter, sondern waren kürzlich noch Deregulierer. Erst wenn sich Wertmaßstäbe und Weltbilder wirklich ändern, würde aus Wendigkeit so etwas wie Wendemut. Dazu jedoch braucht die Europäische Union einen ganz anderen Reformvertrag als den von Lissabon.
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